Lauftagebuch

Laufen auf dem europäischen Fernwanderweg E1

Das hätte ich wissen müssen! Der Südschnellweg ist an diesem Sonntagmorgen gesperrt. Ich bin eh schon eine halbe Stunde später dran als geplant, weil ich den Wecker abgedrückt habe und noch eine Weile im Bett geblieben bin. So kommt es, dass ich erst um kurz vor sieben Uhr in Springe ankomme und mich auf den Weg mache. Mein Weg soll mich – grob umrissen – zuerst nach Bad Münder führen, von dort dem E1 folgend über Hameln nach Aerzen und dann freestyle – also abseits des E1 – nach Bad Pyrmont.

Was nach Bad Münder kommen wird, darauf bin ich gespannt. Die Ereignislosigkeit ist gut, um in den Lauf hineinzufinden, das richtige Tempo zu finden. Nach ungefähr acht Kilometern bin ich dann auf dem E1, genauer auf der Etappe 4.6 des Europäischen Fernwanderwegs, der vom Nordkap bis an die Südspitze Italiens verläuft. Wäre doch auch ein schönes Projekt für mein zukünftiges Ich. Heute aber zuerst die Abschnitte 4.6 und 4.7., wenn auch letzterer nicht in seiner gesamten Länge.

Nebel, Nebel, Nebel

Warum steht ein Pilz im Wald?
Warum steht ein Pilz im Wald?

Es ist nebelig als ich loslaufe und schon so hell, dass ich die Stirnlampe im Auto gelassen habe. Auch die Handschuhe habe ich zurückgelassen, bei 6 °C ist mir auch so warm genug. Den Weg von Springe nach Bad Münder kenne ich einigermaßen, ich habe ihn schon im Rahmen meiner versuchten Deisterumrundung abgelaufen. Dennoch verlaufe ich mich kurz und mache einen kurzen Umweg, bis ich wieder auf die geplante Route gelange. Viel zu sehen ist nicht. Hügel, eine Bahnlinie und Windräder. Einige Kühe sind sowas wie der Höhepunkt der ersten 10 km. Soll heißen: Bis ich nach Bad Münder komme, passiert nicht viel.

Schon zwei Kilometer hinter Bad Münder führt mich der Streckenverlauf zum Süntel, einem Höhenzug von max. 440 Metern Höhe. Erfreulicherweise führt der Weg nicht durchgängig über die asphaltierte Straße, sondern auch richtige Trails entlang. Zusammen mit der Steigung hat das jedoch den Nachteil, dass ich zum schnellen Gehen gezwungen bin. Mit jedem Meter, den ich an Höhe gewinne, nimmt der Nebel zu, bis er mich schließlich vollständig umschließt. Fernblicke und Aussichten sind damit gestorben.

Nebel auf dem Weg zur Hohen Egge
Nebel auf dem Weg zur Hohen Egge

Hunde!

Der Süntelturm
Der Süntelturm auf dem Gipfel der Hohen Egge

Nach 16 km erreiche ich dann den Süntelturm auf der Hohen Egge, dem höchsten Punkt des Süntels. Drei Wanderer sitzen auf den Bänken vor dem Turm und plötzlich nehme ich auch drei Hunde wahr, die glücklicherweise von den Wanderern an die Leine genommen werden. Ich grüße und mache auf der Rückseite des Turms ein Bild. Als ich weiterlaufe, schießen unvermittelt die drei Hunde hinter mir her, wild kläffend und knurrend. Mir rutscht das Herz ganz tief in die Hose. Hunde und ich – das ist keine Liebesbeziehung und wenn es nach mir ginge, wäre Leinenzwang allgemein verpflichtend.

Zwei der Hunde gehen mir bis zur Hüfte, der dritte ist ein Wadenbeißer. Besonders der Schäferhundmischlung kommt mir zähnefletschend viel zu nah. Abwehrend halte ich einen Arm vor mir und gehe ganz langsam rückwärts. „Bleib stehen!“, rät mir die Besitzerin mit leichter Panik in der Stimme. Die hat leicht reden. Ich bin mir sicher, dass ich dieses Mal gebissen werde.

Viel zu langsam kommt die Besitzerin heran, dann schnappt sie nach unendlich lang empfunden Sekunden ihren schlecht gelaunten Hund am Halsband. Glück gehabt. Schnellstens setze ich mich in Bewegung. Bloß weg hier. Die Entschuldigung höre ich schon gar nicht mehr richtig und sage dann auch noch aus Reflex, dass es kein Problem gewesen sei. Echt jetzt?! Ich sollte sagen, dass Hunde, die zur Verfolgung ansetzen, mies erzogen sind sind und dauerhaft an eine Leine gehören.

Abwärts zum Schweineberg

Kilometerweit geht es jetzt abwärts. Das tut gut nach den vielen Höhenmetern, die ich auf dem Weg hinauf auf die Hohe Egge erklommen habe. Wobei: So viele waren es gar nicht. Die Uhr informiert mich, dass ich erst ein Viertel der gesamten Höhenmeter hinter mich gebracht habe. Manchmal ist Technik auch ein Fluch. Nicht immer ist der Weg gut zu laufen. Der Regen hat den Boden aufgeweicht und lässt mich gelegentlich versinken, auf dem vielen nassen Laub besteht akute Rutschgefahr. Allzu schnell bin ich dadurch trotz des Gefälles im Rücken nicht.

In Unsen, einer kleinen Ansiedlung am Saum des Süntels, bin ich wieder zurück auf dem Ausgangsniveau. Es warten zwei weitere Anstiege. Zuerst kommt der Schweineberg, den ich abermals mehr gehend als laufen bewältige. Es folgt der Basberg. Dazwischen ein kleiner Bach, den ich auf einer hölzernen Brücke überquere. Es ist eine Freude durch den tropfnassen Wald zu laufen. Der Morgennebel erzeugt seine ganz eigene, mystische Stimmung. Was mir auffällt ist die durchgehend gute Beschilderung des E1. Alle paar Meter passiere ich ein Schild oder eine andere Wegmarke. Verlaufen ist quasi unmöglich.

10 km bis Hameln
10 km bis Hameln

Mitten durch die Altstadt von Hameln

In der Altstadt von Hameln
In der Altstadt von Hameln

Von Norden her erreiche ich die Randgebiete von Hameln. Der Übergang von Wald zu Ort ist nahtlos, den erhofften Panoramablick auf die Stadt gibt es nicht. Als ich an der B217 doch kurz nach dem richtigen Weg suchen muss, nehme ich das als Anlass für eine kurze Pause. Ich hätte sie nicht nötig, aber ich kann so meine Vorräte umschichten, trinken und Müll entsorgen. Rein willkürlich scheint mir das Muster, nach dem der E1 durch Hameln verläuft. Es geht kreuz und quer und unvermittelt zwischen zwei Wohnhäusern hindurch, entlang dem Ufer der Hamel. Ohne Hinweisschild hätte ich die Abbiegung auf jeden Fall verpasst.

Ich laufe mitten durch die Innenstadt und habe den Eindruck, von einigen Passanten mit Argwohn betrachtet zu werden. Vorbei an St. Bonifatius geht es über die Münsterbrücke auf die Westseite der Weser. Insgesamt hatte ich etwas mehr erwartet von der Stadt, so richtig gepackt hat sie mich nicht. Der Blick von der Brücke ist auch eher unspektakulär. Vielleicht liegt es am Wetter, der Nebel taucht die Stadt in Grau.

Ein verspäteter Ausblick

Blick vom Klüt auf Hameln
Blick vom Klüt auf Hameln

Westlich der Weser liegt der nächste Anstieg. Auf dem Höhenprofil sieht er ziemlich steil aus und die Realität bestätigt die Technik. Da, wo der E1 entlangführt, ist eigentlich kein Weg zu erkennen. Es ist lediglich eine laubbedeckte Rinne, die geradewegs nach oben führt. Etwa nach der Hälfte des Anstiegs geht es in Serpentinen weiter. Laufen kann ich hier nicht, es ist viel zu steil. Um eine Steigung zu überwinden, gibt es bekanntlich zwei Ansätze. Direkt und dafür steil, oder in langen Windungen mit mäßiger Steigung. Es liegt auf der Hand, welcher Ansatz beim Anlegen dieses Weges gewählt wurde. Immerhin läuft man keinen Meter zu viel, es geht auf direktem Weg hinauf.

Oben bekomme ich dann verspätet den Blick, den ich mir schon auf der anderen Flussseite gewünscht hätte. Nebelverhangen kann ich über Hameln blicken. Beschwingt setze ich meine Reise fort. Der E1 führt parallel zu einer Straße leicht abwärts. Ich komme an zwei Teichen vorbei, in denen sich die umliegenden Bäume spiegeln. Ich umrunde den größeren Teich, die wenigen Extrameter ist es mir wert. Dann geht es schon wieder hinauf. Anstiege gehe ich weiterhin fast immer. Nach 33 km bin ich dann oben – vorerst. Die nächsten 10 km sollte keine nennenswerte Kletterpartie bevorstehen.

Nach dem E1 kommen die Probleme

Ein Wegweiser auf dem E1
Ein Wegweiser auf dem E1

Ich lasse den Klüt hinter mir und am Waldrand eröffnet sich ein weiter Blick nach Südwesten. Über Feldwege und Wiesen umrunde ich die kleine Ortschaft Dehrenberg, dann komme ich nach Königsforst. Am Ortsausgang habe ich 40 km zurückgelegt und erstmals richtige Probleme. Mich befällt große Müdigkeit und ich stoppe meine Uhr. Auch weil ich mich kurz durch ein Hinweisschild falsch leiten ließ. Ich war auf dem direkten Weg Richtung Aerzen, der E1 aber macht noch einen Bogen und führt am Rande eines kleinen Hügels entlang. Nach Konsultation meiner Navigations-App entscheide ich mich für den direkten Weg. Aktuell geht’s mir schlecht und daher kann es nicht schaden, einige Meter und vor allem Höhenmeter zu sparen.

Weit komme ich nicht. Kaum in Aerzen angekommen, pflanze ich mich auf eine Mauer vor einer leergeräumten Bank. Ich hole alles aus dem Rucksack, was ich noch an Verpflegung habe, esse, trinke. Dann gehe ich einige Meter und motiviere mich weiterzulaufen. Wieder nur kurz. Ich erspähe eine Tankstelle und nutze die Gelegenheit, mir eine Cola zu gönnen. Vielleicht hilft sie ja. Das Wechselgeld klimpert, als ich mich wieder aufmache. Das Kling-Klang nervt mich so hart, dass ich die Münzen mit fahrigen Fingern aus der Tasche pulen will. Es bleibt beim Versuch und die Münzen verteilen sich über den Gehweg, eine Zwei-Euro-Münze verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Ich fluche herzhaft. Pause reiht sich jetzt an Pause, die Uhr bleibt gestoppt.

Ein letzter knackiger Anstieg

Der Blick zurück vom Bomberg
Der Blick zurück vom Bomberg

Missmutig laufe ich weiter, aber es bleibt schwierig. Ich verlaufe mich an einem Kreisel und muss erneut stoppen. Wo um Himmelswillen muss ich lang? Ich habe den E1 verlassen und befinde mich auf dem Weg nach Bad Pyrmont. Wegweiser, denen ich folgen könnte, gibt es daher nicht mehr. Schließlich finde ich den Weg und laufe, solange mich meine Beine tragen. Das ist ehrlicherweise nicht sonderlich weit, denn das Gelände steigt erneut an. Die 9 – 10 km Flachland habe ich hinter mir und der letzte harte Anstieg liegt genau vor mir. Die lange Allee wäre ich heute Früh sicherlich noch gelaufen, jetzt geht mir die 2-%-ige Steigung zu weit. Ich laufe die Hälfte, die andere gehe ich.

Am Bomberg brauche ich keinen Gedanken mehr ans Laufen zu verschwenden, die Steigungen sind hier durchweg zweistellig. Mir geht die Pumpe. Das Laub auf dem schlammigen Untergrund bietet nicht immer den besten Halt. Ich habe ganz schön zu tun, um die etwa 200 Höhenmeter hinter mich zu bringen. Am Ende rutsche ich aus und kann mich nur mit Mühe halten, indem ich in den Matsch fasse. Ich blicke den Weg zurück, den ich genommen habe. Nebel hängt zwischen den hohen Buchenstämmen, deren Laub den gesamten Hang bedeckt.

Nach 47 km habe ich auch diese letzte Prüfung geschafft, bin auf dem Bomberg. Von hier aus geht es zunächst hinab bis nach Bad Pyrmont und schließlich relativ eben weiter bis zum Bahnhof außerhalb des Ortes.

Ein bisschen Trailrunning gefällig?

Vorbei an einem Ausflugslokal komme ich zum Spelunkenturm. Kurz überlege ich, ob ich die Stahlkonstruktion erklimme, entscheide mich aber aus zeitlichen Erwägungen dagegen. Ob das der richtige Weg ist? Vor mir schlängelt sich ein Pfad den Hang hinab und ich bin nicht sicher, ob es ein „offizieller“ Weg oder eher ein Trampelpfad ist, den sich Wanderer gebahnt haben, um auf dem kürzesten Weg zurück in die Stadt zu kommen.

Wie dem auch sei, der Pfad ist laufbar. Ich stürze mich den Hang in engen Kurven hinab. Der Trail fordert höchste Konzentration. Steine, Wurzeln, Laub und allerlei Stolperfallen warten nur darauf, mich zu Boden zu schicken. Wirklich schnell laufen lässt sich so nicht, mein Augenmerk liegt darauf, keine Bauchlandung hinzulegen. Aber es macht auch unheimlich viel Spaß, den Hang hinabzusausen.

Der Trail geht direkt über in eine lange und breite Allee. Hier kann ich wirklich laufen lassen. Alles fühlt sich jetzt leicht und gut an. Scheinbar habe ich mein Tief überwunden und das baldige Ende meines Ausflugs gibt mir Rückenwind. Ich durchquere den Bergkurpark und den mittleren Kurpark, ohne dass ich sie als solche erkenne. Es sind Grünanlagen, nicht mehr, nicht weniger. Immer wieder komme ich an imposanten Villen vorbei, sie zeugen von der ehemaligen Exklusivität des Kurortes. Heute ist alles etwas angestaubt.

Verschlossene Türen am Schloss

Nach gut 50 km ist das Schloss in Bad Pyrmont erreicht
Nach gut 50 km ist das Schloss in Bad Pyrmont erreicht

Ich habe meine Route extra durch den Schlosspark geführt, mit der Absicht, dort ein abschließendes Foto von mir vor dem Schloss zu schießen. Ein Drehtor macht mir am nördlichen Ende des Parks zunächst meinen Plan zunichte. „Kein Eingang“, kündet ein Schild am Zaun unmissverständlich. Gut, suche ich mir halt einen Weg parallel zum Park. Es wird ja sicherlich an anderer Stelle einen Eingang geben. Und so ist es, wenige Meter weiter finde ich ein weiteres Tor. Auch dieses lässt sich nicht bewegen. Ich bin verwundert, dann entdecke ich über einem Kartenleser den Hinweis, dass nur eine Pyrmont-Card Zutritt gewährt. Na toll! Natürlich habe ich keine derartige Karte und wäre auch nicht bereit, mir eine solche zuzulegen. So umwerfend sieht der Park von draußen auch nicht aus.

Das Schloss in Bad Pyrmont
Das Schloss in Bad Pyrmont

Leicht angesäuert setze ich mich parallel zum Zaun in Bewegung und komme auch so zum Schloss an der Südseite. Nicht so prachtvoll wie erhofft, muss es trotzdem als Fotomotiv herhalten. Ein Pärchen, das mich beobachtet fordert mich auf: „Los! Laufen, laufen!“ Ich entgegne, dass ich mir erst einen Moment fürs Genießen nehme, dann geht’s weiter Richtung Bahnhof. Noch sind es zwei Kilometer und somit werde ich auf 53 km kommen. Es sind gut zwei Kilometer weniger als geplant, was an der Abkürzung liegt, die ich in Richtung Aerzen genommen habe. Das ist nicht weiter schlimm, in der Situation was es vernünftig. Jetzt, wo ich mein Tief überwunden habe, könnte ich mir gut vorstellen, noch zwei Kilometer mehr zu laufen. Aber am Ende eines Laufs tut man sich damit immer leichter, als wenn man im Angesicht schwindender Kräfte mit der harten Realität konfrontiert ist, noch 15 Kilometer laufen zu müssen.

Ich wollte doch nur Pommes!

Nach fast fünfeinhalb Stunden erreiche ich dann den Bahnhof, drehe noch eine kleine Runde, um den letzten Kilometer voll zu machen und stoppe dann für heute endgültig die Uhr. Zuvorderst bin ich glücklich, den Lauf beendet zu haben. Ganz zufrieden mit mir bin ich nicht. Der Tiefpunkt rund um Kilometer 40 km scheint meinen subjektiven Eindruck zu bestätigen, dass ich im letzten Jahr besser drauf war. Damals hatte ich eine Woche früher einen vergleichbaren Lauf hinter mich gebracht, konnte da aber viele der Anstiege laufen und bekam erst deutlich später größere Probleme.

Aber kann man die beiden Läufe wirklich vergleichen? Die Anstiege heute waren brutaler als sie es vor einem Jahr auf dem Bückebergweg waren und wer weiß, ob mein Kopf nicht das ein oder andere Problem von damals inzwischen verdrängt hat. Nicht zu vergessen: Am Ende hatte ich heute auf den letzten Kilometern wieder gute Beine, auch ohne Gefälle. Die letzten vier Kilometer ging es fast eben und ich fühlte mich locker und leicht. Trotzdem bin ich unsicher, was der Formtest für den Fishermanstrail in zwei Wochen bedeutet. Wie so oft wird wahrscheinlich erst der Lauf selbst zeigen, wo ich stehe.

Ich habe noch über eine halbe Stunde Wartezeit zu überbrücken, genug für ein paar Pommes. Zielstrebig steuere ich den erleuchteten Imbiss an, aber die Tür lässt sich nicht öffnen. Ein wartendes Pärchen erklärt mir sichtlich genervt, dass der Mitarbeiter vor einer gefühlten Ewigkeit nach hinten verschwunden und seitdem nicht wiedergekehrt ist. Es ist zum Verzweifeln. Irgendwie ist Pyrmont für mich heute ein Ort der verschlossenen Türen.

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