Lauftagebuch

From Dusk till Dawn – Ein Mittsommernachtslauf

Derzeit entscheide ich Vieles relativ spontan. Nicht, weil das so sehr meinem Naturell entspräche und ich spontane Entscheidungen liebe. Es ist vielmehr den Umständen geschuldet. Mit den Zwillingen und den vier größeren Monstern zuhause, erübrigt sich oft jede langfristige Planung oder es bleibt schlicht keine Zeit dafür. Selbst für wichtige Themen bleibt nicht immer die Zeit, die sie bräuchten. Da stehen spinnerte Ideen für irgendwelche Läufe nicht besonders weit oben auf der Agenda. Zumindest nicht bei allen in der Familie…

So ist es denn auch mehr oder weniger Zufall, dass ich mich auf dem Weg nach Springe befinde, unruhig vor Vorfreude im Auto sitze und in die untergehende Sonne schiele. Der Fahrwind drückt den schweren Geruch des Sommers durch die Fenster und macht mich besoffen. Bis zuletzt hatte ich verschiedene Routen auf meiner Liste und war selbst noch kurz vor knapp nicht sicher, welche davon ich heute Nacht laufen würde. Die Wahl hing stark davon ab, wann meine Frau von der Arbeit käme und ich somit starten könnte. Schließlich musste ich noch mit dem Zug zum Ausgangspunkt fahren. Dachte ich zumindest. Als ich schon meinen geheimen Favoriten – die Route um den Kleinen Deister – abgeschrieben hatte, empfahl mir meine Frau nach Ihrer Rückkehr das Offensichtliche: Nimm das Auto, das brauche ich heute Nacht nicht. So fiel meine Wahl eben auf eine ungefähr 57 km lange Strecke rund um den Höhenzug Kleiner Deister bei Springe, das Ausgangs- und Endpunkt der Tour werden sollte.

Sonnenuntergang auf dem Weg nach Springe – dem Start- und Endpunkt meines Mittsommernachtslaufs

Die Lauf beginnt um 21:46 Uhr

Am Bahnhof in Springe

Gute fünf Minuten vor dem Sonnenuntergang parke ich mein Fahrzeug am Bahnhof und warte auf den Startschuss. Um 21:46 Uhr wird die Sonne laut Wetter-App hier untergehen und ich werde zu meinem Lauf durch die Nacht aufbrechen. Meine Idee ist, dass ich von Sonnenuntergang bis zum -aufgang laufen werde, also rund sieben Stunden. Für die geplante Route würde ich im Normalfall weniger als sechs Stunden benötigen, aber es kämen ja noch einige Fotopausen hinzu und wer wusste schon wie es laufen würde. Notfalls hänge ich ans Ende eben noch ein paar Kilometer dran. Ganz auf meinem Mist war die Idee nicht gewachsen. Heiko von der Ahé bietet in diesem Jahr am Wochenende nach Mittsommer einen 50-km-Lauf an, der bei Sonnenuntergang gestartet und spätestens bis zum Sonnenaufgang beendet sein muss. Ich will allerdings direkt in der kürzesten Nacht des Jahres laufen und mich nicht auf eine bestimmte Distanz festlegen, weswegen ich mein eigenes Ding mache. Ist eben auch ein Privileg der Elternzeit, dass man einfach solchen Unfug mitten in der Woche starten kann.

Der Himmel über dem Deister steht in Flammen

Pünktlich um 21:46 Uhr starte ich einigermaßen beschwingt gen Süden. Bis ich aus der Stadt heraus bin, ist es etwas trist. Der Stadtkern ist nett, aber die Ausläufer Richtung Bahnhof zum Vergessen. Kurz hinter Springe muss ich einen kleinen Hügel hinauf, der mir einen Blick auf die hinter mir liegende Stadt und den Deister eröffnet. Darüber Wolken, die von der Sonne altrosa gefärbt sind, der Himmel blassblau. Der Anblick begleitet mich die nächsten 20 Minuten und ich kann mich nicht sattsehen. Immer wieder halte ich inne für ein Foto oder eine kurze Videoaufnahme des Sonnenuntergangs, der sich in ständig wechselnden Schattierungen zeigt. Schon jetzt bin ich überzeugt: Das hat sich gelohnt! Dabei bin ich noch keine vier Kilometer gelaufen.

Nach dreieinhalb Kilometern passiere ich das Jagdschloss. Beim Versuch der Deisterumrundung vor einigen Wochen empfand ich das Stück zwischen dem Schloss und dem Wisentgehege als besonders schön. Heute gibt mir der Abschnitt zunächst mal einen Eindruck davon, wie es später im Wald werden wird: Dunkel. Und ein bisschen unheimlich. Gut, dass ich in letzter Minute noch meine Stirnlampe rausgesucht und geladen habe. Auf Sternenlicht und Abenddämmerung kann man im Wald nicht setzen. Dann schenkt er mir ein Erlebnis, dass ich schon seit Jahren nicht mehr hatte. Lichtpunkte mäandern durch das Unterholz und einen Augenblick bin ich ziemlich perplex. Glühwürmchen! Wie lange habe ich keine Glühwürmchen mehr gesehen? Ich weiß es nicht, aber es muss lange zurückliegen. Es war fast so, als hätte ich vollends vergessen, dass es sie überhaupt gibt. Ob meine Kinder davon wissen oder sie je gesehen haben, frage ich mich. Ich halte ihr Treiben – nur unzureichend – mit der Handykamera fest. Die Lichtstärke reicht für solche Aufnahmen leider nicht aus, da ist das menschliche Auge doch noch um Längen überlegen.

Durch das Erlebnis bin ich noch beschwingter als zuvor. Allerdings sollte ich so langsam mal ins Laufen kommen. Wenn ich immer nur Fotostopps mache und dümmlich grinsend herumstehe, dann reichen die sieben Stunden nicht aus für die Route, die ich eigentlich schaffen möchte. Außerdem will ich ja auch ein bisschen Sport machen. Der gute Vorsatz hält vielleicht 500 m, dann bleibe ich an der Nordseite des Wisentgeheges erneut stehen. Der Himmel über den Hügeln ist nur noch blass-orange und von solcher Schönheit, dass ich den Moment einfangen möchte. Während meines Stopps höre ich die Laute der Tiere auf der anderen Seite der Mauer. Das hat etwas Geheimnisvolles.

Eine mysteriöse Mauer, der Wald und das letzte Tageslicht

Nach 9 km finde ich mich auf einem schnurgeraden Forstweg wieder, der links von einer mannshohen Mauer und rechts vom Wald begrenzt wird. Das hat etwas Beklemmendes, weil ich mich eingeengt fühle und als ein Tier durchs Unterholz bricht, bekomme ich erstmals an diesem Abend eine Gänsehaut. Puh, das ist unangenehm! Jetzt der Fantasie bloß nicht zu viel lange Leine geben, sonst fange ich noch an, mir Schauergeschichten auszudenken. Die Mauer zum Beispiel. Völlig unsinnig eigentlich. Vielleicht soll sie ja etwas gefangen halten… nur befinde ich mich dann auf der falschen, nämlich der Innenseite.

Das ist natürlich Kokolores. Die Mauer ist die Begrenzung des sog. Sauparks und soll lediglich das Jagdwild im Revier halten und das schon seit je her. Das ist allerdings Wissen, das ich mir erst im Nachklang aneigne. Jetzt muss ich mit meinem Halbwissen über die alte Steinmauer leben, die irgendwie unter Denkmalschutz steht. Ich bekomme nicht mehr zusammen, warum, aber es lenkt meine Gedanken ab. Nach 11 km dann bin ich das erste Mal „lost“, wie es meine Kinder so gern sagen. Ich habe den Abzweig verpasst, den ich hätte nehmen sollen und bin völlig umsonst hundert Meter einen Hügel hoch. Kurz ziehe ich Google zu Rate, dann weiß ich, dass ich zurück muss. Es ist kein Wunder, dass ich den Abzweig verpasst habe, es ist ein geschlossenes Tor in der Mauer, das sich aber glücklicherweise öffnen lässt. Ganz wie in einem Tierpark. Nun bin ich also heraus aus dem Jurassic Park.

Aber es geht vom Regen in die Traufe. Schon auf der anderen Straßenseite geht es direkt in den Wald und der Wegweiser, den ich im Licht meiner Stirnlampe lesen kann, verheißt nichts Gutes. Über fünf Kilometer bis zum Kloster Wülfinghausen. Na hoffentlich geht’s nicht die ganze Zeit durch den Wald. Denn nur durch den Wald ist nachts noch unangenehmer als am Waldrand entlang. Es hatte schon einen triftigen Grund, weshalb ich meine Kopfhörer im Auto gelassen hatte. Hören zu können, beruhigt mich, aber ich muss mich erst einmal mit der Situation anfreunden. Ich kann schon verstehen, warum die Menschen früher höllische Angst vor dem Wald hatten. Und dabei habe ich auch noch Premiumbedingungen. Ein 1-A-Waldweg, kaum Unterholz und das Wissen eines modernen Menschen, in dem kein Platz mehr ist für Spuk- und Fabelwesen. Mir ist klar, dass das gefährlichste Tier hier im Wald der Wolf ist, der eh Reißaus nimmt, wenn ich mit meiner „Hirnbirn“ um die Ecke getrampelt komme und selbst die Irren selten im Wald lauern. Komischerweise ist es das Unbekannte, das mir einen leichten Schauer über den Rücken jagt, die Dunkelheit macht die Geschichten über den Wald wieder plausibel.

Ich laufe etwas schneller als notwendig, weil ich aus dem Wald heraus möchte, aber im Grunde ist es ok. Trotzdem befreit es, das Ende des Waldes zu erreichen, das schon wesentlich früher kommt, als nach den befürchteten fünf Kilometern. Die verbleibenden zwei Kilometer zum Kloster scheine ich auf einem Feldweg zurücklegen zu dürfen. Weil links von mir das Restlicht dieses längsten Tages des Jahres nun fast vollständig hinter den Hügelketten erloschen ist, blinken davor die Lichter einer Stadt. Ich bleibe stehen und versuche mir zu erklären, welche Stadt das sein könnte. Kann das sogar Hannover sein bzw. die Vororte davon? Ich weiß es nicht, weil ich die Route – erinnert euch an die übers Knie gebrochene Planung – nicht im Kopf habe und im Dunkeln zusätzlich desorientiert bin. Es ist 23:25 Uhr und ich bin schon ungefähr eineinhalb Stunden unterwegs. Dafür bin ich nicht sonderlich weit gekommen: 14 km sind es bis dato. Immer diese Fotos. Also schnell die Aufnahmetaste gedrückt und weiter geht’s.

Das letzte Licht des längsten Tages verblasst

Vom Kloster bekomme ich nicht viel mit. Ich erahne es in der Dunkelheit und kann einen Blick in den Innenhof werfen. Hätte ich nicht die Hinweisschilder gesehen, ich hielte es für einen Gutshof. Und vielleicht ist es auch einer. Aber etwas, das nach Kloster aussieht, passiere ich nicht mehr. Dafür lasse ich mich am Ortsausgang auf die falsche Fährte locken und folge der Kreisstraße, anstatt auf den Feldweg abzubiegen. Das beschert mir ein paar Meter quer übers Feld.

Ohne die lange Dämmerung sind die Sterne jetzt voll erstrahlt. So viele Sterne habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich bin einigermaßen entfernt von größeren Städten und damit auch Lichtquellen, die das Funkeln der Sterne überlagen könnten. Schön, denke ich, ich sollte häufiger nachts laufen. Nach fast 20 km verlasse ich den Feldweg und komme auf eine Straße, die links und rechts von Obstbäumen flankiert ist. Zumindest glaube ich im Dunkeln Obstbäume zu erkennen. Dann geht es leicht abwärts in eine Rechtskurve und durch einen kleinen Ort. Ich komme mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, der gerade unterwegs ist, laufe mitten auf der Straße und fühle mich privilegiert.

Nächtliche Spiele

Hinter dem Ort muss ich alsbald wieder in den Wald. Der Weg ist hier so übersät mit abgebrochenen Ästen und umgestürzten Bäumen, dass es halsbrecherisch ist, ihn im Dunkeln zu laufen. Nur gut, dass das Stück kurz ist und ich schnell wieder auf einem Weg entlang des Waldes komme. Über ein verlassenes Stück Kreisstraße, dann im Zickzack über Feldwege, das mir selbst im Dunkeln auffällt und wenig Sinn ergibt, erreiche ich die B1. Erstmals spüre ich, dass ich müde werde. Nicht schläfrig, meine Beine sind es, die müde wirken. Es liegen 28 km hinter mir, da erreiche ich das Rasti-Land, einen Vergnügungspark, in dem ich schon als Kind war und natürlich auch mit meinen Kindern. Mich wundert, dass ich ihn auf dieser Seite an der Bundesstraße passiere, ich meine mich zu erinnern, mich ihm von der anderen Seite her zu nähern zu müssen. Wie dem auch sei, die zahlreichen Müllcontainer kommen wie gerufen, um endlich die Verpackungen der Gels und Riegel zu entsorgen, die ich schon lange Zeit in der Hand trage. Auf der richtigen Route bin ich auch, sagt die Garmin.

Hinter dem Vergnügungspark folgt Bernstorf, das ich eigentlich nur ankratze, ehe ich es nach Norden Richtung Osterwald verlasse. Mehrere schwere Maschinen sind auf den Feldern zugange, dabei ist es schon einiges nach Mitternacht. Landwirt sein klingt auch nur in den Kinderbüchern romantisch. Oder wenn man total naiv ist. Als das Motorengeräusch verklingt, hat mich die nächtliche Einsamkeit und Stille wieder. Selbst wenn ich es im Dunkeln nicht erkennen könnte, würde ich es spüren: Das Gelände steigt hier deutlich an, je näher ich dem Waldrand komme. Da ich mich mit der Strecke wenig intensiv befasst habe, ist es für mich immer eine kleine Überraschung, in welchen Ort ich als nächstes komme. Nicht, dass es ein besonders aufregender Zeitvertreib wäre, aber allzu viel Auswahl habe ich ja nicht und im Dunkeln auch nicht die größte Ablenkung. Würde ich mich besser mit Astronomie auskennen, könnte ich Sternbilder suchen. Für mehr als Wega und den Großen Wagen reicht es bei mir aber nicht.

In Osterwald-Glashütte ist alles ruhig, Kopfsteinpflaster, Mietskasernen, eine alte Kneipe, vermutlich dauerhaft geschlossen, dann ein Hotel, auch dauerhaft geschlossen. Nicht die besten Zeiten für Gastronomie. Vielleicht täusche ich mich ja auch und sie sehen nur im Dunkeln geschlossen aus. Was ich für den Ortsausgang halte ist nur ein kurzer, aber steil ansteigender Bogen, den die Straße durch den Wald hinein ins eigentliche Osterwald schlägt. Auch hier ruht alles – wie sollte es anders sein? Es ist Dienstagnacht, weit nach Mitternacht und wer morgen raus muss, schläft jetzt. Mir gehen die Liedzeilen von Stille Nacht, heilige Nacht durch den Sinn. Etwas abgewandelt: Alles schläft, einer läuft.

In der Ortsmitte teilt sich die Straße und ich entscheide mich für den Weg zum Schwimmbad. Zunächst sieht auch noch alles gut aus auf dem Display der Uhr, doch nach 100 m merke ich eine leichte Abweichung. Nee, Mann! Also wieder zurück und den anderen Weg gewählt. Und weil es so schön ist, passiert mir die gleiche Chose zwei Kilometer weiter erneut.

So abgelenkt war ich von einem Tier, das vor mir auf dem Weg lief, dass ich die Weggabelung gar nicht wahrgenommen hatte und erst ein ganzes Stück dahinter durch den Blick auf meine Uhr merke, dass ich falsch bin. Normalerweise meldet sich die Uhr mit einem Piepen, wenn ich die geplante Route verlasse, aber nicht zwischen 22 Uhr und 8 Uhr morgens. Für diesen Zeitraum habe ich eingestellt, dass die Uhr automatisch den „Bitte nicht stören“-Modus aktiviert. Und der – so wird mir klar – gilt auch für Aktivitäten und die Navigationsfunktion. Nicht die cleverste Programmierung. Man könnte ja durchaus unterstellen, dass jemand, der eine Aktivität durchführt, nicht ruht. Aufgefallen war mir das schon früher, wenn ich vor 8 Uhr morgens unterwegs war und das kam in der Vergangenheit häufiger vor. Doch so richtig bewusst wird es mir erst heute.

Der Weg führt bergan, mit der Physis geht es bergab

Nach ungefähr zwei Kilometern entscheide ich mich für eine Verschnaufpause, auch weil ich Sorge habe, mir in die Hose zu machen. Die Anstrengung des Anstiegs schlägt direkt durch auf die Verdauung. Nach zwei Minuten geht es wieder und mit kleinen Schritten setze ich meinen Weg fort. Entsprechend ist auch meine Pace. Nichtsdestoweniger ist es höllisch anstrengend und so kommen mir die Waschbären gerade gelegen. Eine kleine Gruppe räumt gerade eine Mülltonne aus, als ich des Weges komme und flüchtet auf einen nahegelegenen Baum. Ich bleibe stehen und versuche die lustigen Diebe zu filmen, was nur im Licht der Stirnlampe schwierig ist. Als wir uns genug beäugt haben, setze ich meinen Weg – widerwillig – fort und werde mit einem eindrucksvollen Blick belohnt. Nach süd-west hin öffnet sich der Wald und ich kann im Tal dutzende Windräder blinken sehen. Im Hellen ein vermutlich trister Anblick, aber im Dunkeln faszinierend. Leider lässt sich der Blick mit dem iPhone nicht einfangen.

From Dusk till Dawn – ein Lauf durch die kürzeste Nacht des Jahres

Dass ich mich direkt im Anschluss verlaufe, liegt vielleicht daran, dass ich gedanklich noch beim Anblick, der sich mir soeben bot, verharre. Oder es liegt einfach daran, dass der eigentlich zu laufende Weg als solcher nicht erkennbar ist. Er ist überwuchert und gut getarnt. Daher laufe ich zunächst ein Stück parallel, ehe ich meinen Irrtum merke, kehre um und schlage mich durch den Dschungel. Der Weg ist nicht nur zugewuchert, lose Steine machen ihn auch schwer laufbar, insbesondere nachts im Schein einer LED-Lenser. Zwei mal geht es gut und ich komme nur ins Straucheln, als ich einen Stein touchiere, beim dritten mal mache ich mich lang. Mir entfährt ein „Aua“, als ich auf dem Boden aufschlage und ich mich kurz über meine dämliche Idee ärgere. Nachts durch den Wald, wer macht denn sowas? Ein kurzer Check zeigt mir, dass ich nur dreckig bin, sonst habe ich den Sturz ohne Schramme oder Beule überstanden. Na immerhin. Kaum wieder auf den Füßen, kreuzt etwas von links nach rechts den Weg. Es hat wohl meine Schulterhöhe – vermutlich ein Hirsch – und die Szene könnte locker in jeder Neuauflage von Blairwitch verwendet werden. Wäre ich nicht so konzentriert auf meinen Erschöpfungsgrad, es hätte mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt. So ist es mir einfach nur egal. Zumal ich wenige Meter später aus dem Wald heraus bin.

In Dörpe wird mir klar, dass ich richtig zu tun habe. Eine Bank am Wegesrand ist mein nächstes Ziel. Ich öffne den Rucksack und sinke auf die Bank, trinke. Ein Auto zerreißt die nächtliche Ruhe und braust ohne zu verlangsamen an meiner Ruhestätte vorbei. Was der Fahrer wohl dachte? Nach Hilfe zu schreien scheint mein Anblick jedenfalls nicht. Ich lege mich auf die Bank und blicke in den Nachthimmel. Das ist ein atemberaubend schöner Anblick. Müdigkeit macht sich in mir breit und ich überlege, ein Nickerchen zu machen. Wecker stellen, ausruhen und dann weiterlaufen. Ein kühler Windstoß überzeugt mich davon, dass es keine clevere Idee ist. Ich bräuchte eine Decke oder wenigstens eine Jacke. Aber die ist im Auto, das sich von hier noch 16 km entfernt befindet, wenn ich der Route folge. Ich habe bereits Google konsultiert und herausgefunden, dass es auch fünf Kilometer kürzere Routen gibt, eine davon – die mit weniger Waldanteil – liegt eh in der Richtung, in die ich müsste.

3,5 km sind es bis Brünninghausen und ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das schaffen soll. Mein „Mindset“ ist schlecht, könnte man sagen. Ich probiere es mit kleinen Schritten, so wie vorhin. Es hilft nur bedingt, denn nach dem anfänglichen Gefühl der zweiten Luft, folgt die Ernüchterung. Der Schritt ist schwer und jeder Meter kostet Überwindung. Mir geht die Lust am Laufen verloren. Folgerichtig stoppe ich die Uhr endgültig.

Vom Nachtlauf zur Nachtwanderung

Ab jetzt beginnt mein langer Spaziergang nach Springe. 10 km sind es wohl noch bis dahin und ich muss feststellen, dass ich nur langsam vorwärts komme. Direkt hinter Brünninghausen muss ich in den Wald. Bevor ich im Dunkel verschwinde, sehe ich einen ersten Hauch von Morgengrauen heraufziehen, dabei ist gerade erst drei Uhr und der Sonnenaufgang noch zwei Stunden entfernt. Genau so lange, meint Google, werde ich für den Rückweg benötigen. Das wische ich zunächst beiseite, stelle aber schnell fest, dass das realistisch ist. Das Einschätzen von Gehzeiten ist ungewohnt. Im Wald begleitet mich der Ruf eines Käuzchens. Das ist ein bisschen unheimlich und schön zugleich. Als es verstummt, muss ich an einen der Standardsätze aus Gruselfilmen denken: „Hört ihr das? Die Vögel sind verstummt!“ Nicht nur, dass man gehend wesentlich langsamer ist als laufend, ist eine Erkenntnis, die ich in dieser Nacht gewinne. Durch einen stockdunklen Wald zu gehen, ist auch beunruhigender als hindurch zu laufen.

Dementsprechend bin ich einigermaßen froh, als ich in Altenhagen ankomme. Ausgerechnet hier, erfahre ich den Schrecken dieser Nacht. In Gedanken versunken, bemerke ich den Koloss von einer Katze nicht, der neben mir auf einer Mauer lauert und herabspringt, als ich daran vorbeikomme. Ich zucke erschrocken zusammen: „Mistvieh!“ Je heller es wird, desto kälter wird mir. Und weil mir das Nachtwandern zu lange dauert, beginne ich einen lockeren Trab. Ein stechender Schmerz in meinem linken Schienbein schreit Protest. Ich hatte es schon beim Gehen bemerkt, beim Laufen fühlt es sich nicht besser an. Na bestens, da bleibt mir wohl oder übel nichts weiter übrig, als zu gehen. Immer wieder gehen mir Lieder durch den Kopf, die etwas mit dem Gehen zu tun haben. „Walk, Idiot, walk!“ von The Hives ist naheliegend. Ein Klassiker hingegen: „I’m walking…“, der auch mal in einem ARAL-Werbespot verwendet wurde. Ich sinniere über den Text und komme nicht drauf. Ich hatte als Kind immer verstanden: „I’m walking, yesterday, I’m walking“. Das ergibt überhaupt keinen Sinn! Und weil ich nichts zu tun habe, google ich den Songtext.

So vergeht die Nacht und ich bin wirklich angeschlagen. Der Hunger ist auch so ein Problem. Den angebissenen Riegel, den ich im letzten Versuch, meine Erschöpfung einzudämmen, angeknabbert hatte, mag ich nicht aufessen, weil ich ihn nicht herunterbekomme. Da kommt mir das Erdbeerfeld kurz vor Springe ganz gelegen. Ich kämpfe kurz mit meinem Gewissen und nehme mir dann fünf Erdbeeren. Ich bewerte für mich, dass das ok ist und kein Diebstahl, auch wenn ich mich schuldig fühle.

Die Dämmerung ist da

Das Licht hat die Dunkelheit jetzt so weit vertrieben, dass man von einer echten Dämmerung sprechen kann und das Ortsschild von Springe habe ich auch erreicht. Trotzdem ist es noch immer ein längerer Spaziergang bis zum Auto, an dem ich erst um kurz vor fünf Uhr ankomme. Ich habe fast zwei Stunden benötigt und noch liegen 40 Minuten Autofahrt vor mir. Wäre ich früher angekommen, hätte ich im Schutz der Dunkelheit noch ein paar Minuten auf der Rückbank geschlafen. Jetzt, ohne die schützende Decke der Nacht, trete ich die Heimfahrt direkt an. Zuerst halten mich ein alkoholfreies Bier und ein paar süße Snacks bei Laune. Umso mehr ich aufwärme, desto müder werde ich. Kurz hinter Hannover entscheide ich mich für einen Stopp, zur Sicherheit. Ich schlafe ein paar Minuten, allerdings nicht ohne vorher den Wecker zu stellen. Schließlich muss meine Frau pünktlich zur Arbeit. Dann setze ich meine Fahrt fort. Mein Abenteuer ist beendet und hat Bleibendes hinterlassen: Der Lauf durch die Nacht war ein richtiges Mikroabenteuer, etwas, dass sich wie ein kurzer Ausbruch aus dem Alltag anfühlte und ganz viele Eindrücke in mir hinterlassen hat, die ich so schnell nicht vergessen werde.

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