Lauftagebuch

Spontane Läufe und ein Trainingsmarathon

Spontane Entscheidungen sind für mich inzwischen der Normalfall geworden, machen die Planung läuferischer Aktivitäten aber nicht immer einfacher. Irgendwie quetsche ich das Laufen zwischen all das, was sonst im turbulenten großfamiliären Alltag anfällt. Flexibilität hilft dabei ungemein. Als uns die Nachricht ereilte, der Kindergarten würde kurzfristig die Betreuung einstellen, torpedierte das meine beiden nächsten Trainingsläufe, bescherte uns dafür aber eine kurze Auszeit im Harz. Wir machten aus der Schließung einfach das Beste, packten in Windeseile die Koffer und starteten schon kurz darauf gen Osten.

Meinen für Mittag geplanten Lauf hatte ich einfach nach hinten verschoben und ließ mich von der Familie an der erstbesten Stelle nach der Autobahn aussetzen. Die lt. Routenplaner verbleibenden 12 km waren mir zu wenig und so lief ich auf gut Glück zunächst mal in die verkehrte Richtung. Eine Auge immer wieder auf den Routenplaner des Handys werfend, näherte ich mich so langsam aber sicher dem Hotel. Lief also alles wie am Schnürchen, wenn man von den fehlenden Fahrradwegen nach einigen Kilometern absah. Ich hatte bis hierhin eine Art Fahrtspiel betrieben und einige schnelle Kilometer aus meinen Beinen geschüttelt. Auf der Landstraße hätte ich es auch laufen lassen können, aber die Steigungen machten mir zunehmend lahme Beine. An so etwas bin ich nur unzulänglich gewöhnt. Da half es auch nicht, dass ich vor zwei Wochen den Brocken-Marathon bewältigt hatte. Eher im Gegenteil. Die Schmerzen im hinteren rechten Oberschenkel waren gerade halbwegs abgeklungen und drohten nun wieder aufzubrechen. Also ruhig, Brauner!

Über Herzberg näherte ich mich immer weiter meinem Ziel: Sieber. Ich muss gestehen, dass ich von dem Örtchen noch nie gehört hatte und auch nicht wusste, dass es hieß wie der kleine Fluss, an dem es gelegen war. Zunächst machte mich am Ortsausgang von Herzberg aber ein Hinweisschild neugierig. Der Lonauwasserfall sollte rechter Hand liegen. Schon in der Karten-App des Handys hatte der Wasserfall mein Interesse geweckt. So oft komme ich nicht dazu, mir Wasserfälle anzuschauen. In der Norddeutschen Tiefebene kommen die naturgemäß nicht allzu häufig vor. Obwohl der Weg zum Hotel geradeaus führte, entschied ich mich für einen Abstecher. Das Naturschauspiel wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Eine kleine Treppe führte vom Gehweg einige Stufen herab, dahinter lag ein Weg, über und über mit gelblich-braunem Herbstlaub bedeckt. Das Licht der langsam untergehenden Sonne ergoss sich in den Herbstwald. Allein dieser Anblick hätte schon den kleinen Abstecher gerechtfertigt. Das Rauschen des fallenden Wassers kündigte indes den nahen Wasserfall an. Sehen konnte ich ihn noch nicht, nur das Flüsschen zu meiner Rechten. Nach vielleicht zweihundert Metern dann hatte ich Stelle erreicht, an der sich das Wasser einige Meter in Kaskaden in die Tiefe ergoss. Durchaus beeindruckend, das hätte ich nicht erwartet. Über eine Treppe gelangte ich auf eine Art Aussichtspunkt, von dem man auf den Wasserfall blicken konnte. Ein Geländer sollte Unvorsichtige davor bewahren, in die Tiefe zu stürzen. Ein schmaler Weg führte bis ans Wasser heran, das Tosen war hier ohrenbetäubend. Beseelt lief ich zurück zu meiner eigentlichen Route.

Überhaupt: Ich war richtig gut drauf, fühlte mich großartig, fit und leistungsfähig. Deshalb machte mir der Anstieg, auf den ich kurz darauf geriet, auch nicht so viel aus. Als ich vor die Wahl gestellt wurde, der Straße (ohne Radweg) zu folgen oder einen Wanderweg einzuschlagen, entschied ich mich für letzteren. Der Weg war ein wenig länger, als wäre ich auf der Straße geblieben, doch das fiel kaum ins Gewicht. Dafür war er wesentlich schwerer zu laufen. Umgestürzte Bäume, Steine und viel, viel Laub. Und dazu die angesprochenen Anstiege. Richtig heftig wurde es zwischen Kilometer 12 und 16, da kamen einige Höhenmeter zusammen. Zusätzlich war der Wanderweg jetzt teilweise nicht mehr laufbar. Die Zahl der umgestürzten Bäume hatte spürbar zugenommen und ins Kraut geschossene Brennnesseln zeugten davon, dass der Weg in letzter Zeit selten begangen wurde. Langsam wurde mir klar, dass ich ohne meine Stirnlampe bald zu einem Blindflug ansetzen musste.

Das letzte Tageslicht
Das letzte Tageslicht erlischt
Blick auf Sieber

Nach etwas mehr als 17 km erspähte ich die unter mir liegende Ortschaft, mein Ziel war fast erreicht. Was ich allerdings nicht erspähte, war der Weg, den die Karten-App anzeigte. Ich sah im letzten Dämmerlicht nur Gesträuch und auch die Handy-Taschenlampe zauberte keinen erkennbaren Weg hervor. Fluchend setzte ich meinen Weg in die entgegengesetzte Richtung fort. Immerhin hangabwärts. Ich hoffte darauf, dass der Weg bald eine Kurve beschrieb und mich ebenfalls zum Ort führen würde. Das jedoch war eine trügerischer Hoffnung. Erst mehrere (schnelle) Kilometer später spie mich der Forstweg auf der Straße aus, die ich schon vor einer gefühlten Ewigkeit zugunsten des Wanderweges verlassen hatte. Die geplanten 17 km hatte ich schon längst erledigt. Nicht, dass ich körperliche Probleme gehabt hätte, aber die Uhr tickte, während meine Familie auf mich wartete. Die Zeit fürs Abendessen war schon längst gekommen und die Zwillinge sicher schon im Bett. Ich fluchte nochmals. Die Nachrichten, die ich versucht hatte zu senden, waren allesamt unzustellbar – kein Netz.

Mir blieb nichts übrig, ich lief die Straße entlang. Ohne Beleuchtung auf wenig Verkehr hoffend. Was gruselig hätte sein können, war erhebend. Als Städter ist man diese Lichtlosigkeit nicht gewohnt und ich staunte über die Sterne. Käuzchen untermalten die Stimmung mit ihren Rufen. Wäre ich nicht unter Zeitdruck gewesen, ich hätte es genießen können. Inzwischen hatten mich allerdings mehrere Nachrichten über entgangene Anrufe erreicht. Meine ältesten Kinder hatten versucht mich zu erreichen. Vergebens. Ich hatte im entscheidenden Augenblick keinen Empfang. Und als mein Handy dann doch klingelte, war ich wegen des Schweißes an meinen Händen und am Gerät nicht in der Lage, den Anruf entgegen zu nehmen. Was für eine Scheiße! Nicht mal eine Nachricht konnte ich schreiben. Verdammte Touch-Screens. Ein altes Nokia 3310 hätte hier nicht versagt…

Ich gab meine Versuche der Kontaktaufnahme auf und lief weiter. So würde ich am ehesten aus diesem Dilemma herauskommen. Und tatsächlich erreichte ich kurz darauf Sieber und nach 22, 9 km sogar das Hotel. Fast 400 Höhenmeter hatte ich ganz nebenbei gesammelt und fühlte mich immer noch so frisch, dass ich meinen inneren Monk mit aller Macht davon abhalten musste, die 23 km voll zu machen. Meine Familie hatte sich schon genug gesorgt und meine Frau den Laden lang genug alleine geschmissen.

Ein Stresstest vor der Sollingquerung

Man könnte meinen, mir müsst es langsam langweilig werden, immer wieder nach Hildesheim zu laufen. Doch mehr als vielleicht ein halbes Dutzend Läufe habe ich bisher auch noch nicht dorthin unternommen. Das reicht bei Weitem noch nicht aus, um mir die Strecke zu verleiden. Zumal ich bisher nie zweimal die gleiche Strecke gelaufen bin und jeder Lauf von den Bedingungen sowieso ein bisschen anders ist. Das ist das Schöne am Laufen: Die Natur ist niemals gleich.

Solange ich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft unterwegs war, langweilte es mich allerdings doch ein klein wenig, das muss ich zugeben. Zumal ich an diesem Freitagmorgen vor Sonnenaufgang losgelaufen war. 10 Uhr war die vereinbarte Zeit, zu der wir uns am Jim + Jimmy treffen wollten. Das ist eine Halle zum Toben im Norden von Hildesheim. Der Innenstadt, die ich so mag, kam ich also nicht nahe. Das war aber von nachrangiger Bedeutung, im Vordergrund stand das Bewältigen der Distanz, ich wollte einen Formtest für die Sollingquerung, die in einer guten Woche auf mich wartete. Eventuell hätte ich es schon jetzt langsamer angehen sollen, Stichwort: Tapering. Doch ich brauchte den Stresstest, um mich selbst mit ausreichend Selbstvertrauen zu impfen. So gut wie in dieser Woche im Harz hatte sich das Laufen schon länger nicht angefühlt. Insgesamt hatte ich gespürt, dass meine Formkurve über die zurückliegenden Wochen einen spürbaren Aufwärtstrend verzeichnete, aber die Belastung des Brocken-Marathons hatte erwartungsgemäß zu einer gewissen Stagnation geführt. Drei Wochen hatte es gedauert, bis sich meine Muskulatur und Sehnen von den Strapazen erholt hatten. Im Hinterkopf trug ich daher die Sorge mit mir herum, dass der heutige 40-km-Lauf die Wehwehchen wieder aufbrechen lassen würde.

No risk, no fun. Ich startete um 6 :15 Uhr und meinte, die ersten Kilometer im Schlaf laufen zu können. Mehr noch: Ich runzelte die Stirn über die schlechte Planung von Garmin Connect, das mich direkt über die für Fußgänger unzugängliche Landstraße Richtung Lehrte führen wollte. Einen anderen Weg zu finden, war nicht weiter schwierig, war ich doch noch keinen Kilometer von meiner Haustür entfernt. Etwas zu selbstsicher, was den Streckenverlauf anging, schaute ich die nächsten Kilometer gar nicht mehr auf die Uhr, setzte einfach einen Fuß vor den anderen und entfernte mich so peu à peu von der geplanten Route. Diese hätte mich gar nicht auf die Landstraße geschickt, sondern durch den Stadtpark geführt. Naja, jetzt näherte ich mich der Route halt von einer anderen Stelle. Viele Wege führen bekanntlich nach Rom. Um auf die geplante Route zu kommen, war es allerdings notwendig, nach ungefähr fünf Kilometer einen gesperrten Bahnübergang zu kreuzen. Ich weiß, ich weiß…

Nach rund neun Kilometern erreichte ich Lehrte, das ich fünf Kilometer später wieder verließ. So langsam kam Licht in den Tag, aber eben nur langsam. In der heraufziehenden Dämmerung sah das Kaliwerk zwischen Lehrte und Ilten besonders eindrucksvoll aus und ich nahm es erstmals in seiner gesamten Ausdehnung wahr: Gigantisch. Spätestens in Sehnde war der Tag endlich angebrochen, ich hatte bereits knappe 20 km hinter mir. Das folgende Streckenstück erinnerte mich an einen ziemlich gescheiterten Versuch eines Laufes nach Hildesheim und weckte deshalb schlechte Gefühle in mir. Subjektiv lief es sofort etwas schleppender. Der Kopf ist und bleibt halt eine Waffe und kann gleichsam ein fetter Bremsklotz sein.

Hinter dem Mittellandkanal folgte Bolzum, dessen kleines Rittergut am Ortsausgang mir wiederholt positiv auffiel. Dann wartete ein längerer Abschnitt Landstraße auf mich, bis ich Lühnde erreichte. Insgesamt war es bis hierhin ein ziemlich ereignisloser Lauf. Als gute Entscheidung hatte sich herausgestellt, dass ich im letzten Moment die Laufjacke zuhause gelassen hatte. Die Temperaturen lagen bereits morgens um 5:30 Uhr im zweistelligen Bereich. Entsprechend schwitzte ich, meine Getränkereserven hatten schon merklich an Volumen eingebüßt, aber 24 km hatte ich ja schon geschafft.

Zwischen Bolzum und Lühnde

Ab hier nahm die Route einen Verlauf, den ich noch nicht kannte. Bisher hatte ich eigentlich immer meinen ehemaligen Wohnort Ahrbergen mitgenommen. Diesmal hatte ich mich für einen direkteren Weg entschieden und musste daher zunächst durch Algermissen laufen. Als Piefke von kaum sechs Jahren war ich zur Überraschung meiner Mutter auf dem Gepäckträger meines Bruders die 16 km von Ahrbergen zur Fleischerei gefahren, in der meine Mutter damals arbeitete und auf deren abschüssigem Hinterhof es sich prima mit einem Fahrzeug fahren ließ. Noch heute kann ich mich dann und wann an den fleischigen Geruch, der im Laden hing. Bleibenden Eindruck erweckte diesmal nur die verfallen Zuckerrübenfabrik, dich ich direkt am Ortseingang passierte.

Am Bahnhof verließ ich den Ort wieder und arbeitet mich vier Kilometer durch die Feldmark zwischen Algermissen und Harsum. Das Laufen fiel mir jetzt nicht mehr so leicht, gleichzeitig wurde ich schneller. Klingt unlogisch, is es aber möglicherweise gar nicht. Ich nehme an, dass ich meine wachsende Ermüdung spürte und unterbewusst schneller ans Ziel kommen wollte. Der Blick aus der Feldmark reichte indes weit. Ich hatte das Gefühl, Hildesheim schon erahnen zu können. Ganz so weit war es noch nicht, es war nur der Kirchturm von Harsum, der sich weithin sichtbar in die Höhe reckte. Den Ort selbst streifte ich nur, lief eigentlich nur daran entlang und gelangte dann zum Stichkanal, der den Mittellandkanal mit dem Hafen in Hildesheim verbindet. Ich glaubte zu wissen, dass ich nun zum Hafen und anschließend zur Innerste gelangen würde und freute mich schon auf den Radweg entlang des Flusses, wurde dann aber in eine andere Richtung geführt. Wieder Feldmark, wieder ein weiter Blick. Diesmal war es allerdings Hildesheim, das ich in nicht allzu großer Entfernung ausmachen konnte.

Genau hier erreichte mich eine Nachricht meiner Frau. Sie erkundigte sich, was sie mir mitbringen sollte. Weil ich im Laufen nur unzureichend tippen kann, unterbrach ich den Lauf für eine kurze Konversation. Das In-die-Hocke-gehen schmerzt in den Knien und der Muskulatur in den Beinen. Es ist nie eine gute Idee, das Laufen zu unterbrechen. Nach einer kurzen Phase, in der sich das Laufen unangenehm anfühlte, kam ich aber wieder in meinen Rhythmus. Ich lag im Zeitplan und würde rechtzeitig an der Halle ankommen. Meine Frau war allerdings noch gar nicht auf dem Weg und mindestens eine halbe Stunde würde sie für den reinen Weg brauchen. Ich würde also vor meiner Familie am verabredeten Treffpunkt ankommen, das gab es auch schon lange nicht mehr.

Auf dem Lerchenberg
Auf dem Lerchenberg

Und in der Tat erreichte ich mein Ziel nach etwas mehr als 38 km. Das war weniger als geplant, weil ich am Anfang des Laufes abseits der Route gelaufen war. Aber ich hatte ja noch etwas Zeit zum Laufen, das war besser als sich die Beine in den Bauch zu stehen. Und ein gutes Foto hatte ich auch noch nicht gemacht. Den Plan, dafür in die Innenstadt zu laufen, begrub ich relativ schnell. Es schien mir einfach zu weit und wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich war, taten mir die Beine inzwischen mehr weh als mir lieb war. Langsam war es mal gut mit der Lauferei. Deshalb lief ich mehr oder weniger ziellos durch die Gegend, bis ein abgewracktes Flugzeug mein Interesse weckte. Scheinbar konnte man den kleinen Berg betreten, auf dem es stand. Leider kam man nur auf Sichtweite heran, ein Zaun verhinderte, dass man noch näher an Flugzeug gelangte. Aber immerhin bot sich ein passabler Blick von dem Hügel. Wie sich herausstellte, gehörte das Flugzeug zur Freizeiteinrichtung, in die wir ohnehin wollten, allerdings zur Paintball-Szenerie und das war noch nichts für meine Kinder. Zumindest nach unserer elterlichen Meinung.

Mit dem Foto im Kasten hatte ich 40 Kilometer auf dem Tacho und es fehlten mir noch immer runde zwei Kilometer für mein heimlich gestecktes Ziel eines Trainingsmarathons. Wäre ja irgendwie blöd, wenn ich den nicht noch voll machen würde. Ich war schon einmal hierher gelaufen, war aber so spät dran, dass ich den Lauf unter inneren Protestschreien meiner Läuferseele nach 41,5 km beendete. Manchmal muss man zur Wahrung des Familienfriedens dem inneren Läufer eben zur Ordnung rufen und ihm bisweilen auch das Maul stopfen. Diesmal gab es aber keinen Grund ihm nicht den Gefallen zu tun und die 42,195 km voll zu machen. Noch immer war unser Familienbus nicht da. So tingelte ich noch einmal der Weg zurück, den ich gekommen war, an der Halle vorbei, eine Unterführung hinab und wieder hinauf, bis ich nach 3:50 Std. die Uhr stoppte. Das war ordentlich. Meine Beine taten zwar weh, aber das war sicherlich der beste lange Lauf seit Monaten und die Bestätigung, die ich brauchte. Jetzt konnte die Sollingquerung kommen, ich fühlte mich gewappnet.

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