Lauftagebuch

Über Routenplaner und die Abhängigkeit vom Handy – Ein 55 km langer Trainingslauf

Der Stream des Hörbuchs bricht bereits nach einem Kilometer ab. Zunächst denke ich mir nichts dabei, der Empfang wird wohl schlecht sein. Als der Stream auch nach drei Kilometern nicht wieder einsetzt, macht mich das skeptisch. Im Laufen versuche ich das Hörbuch wieder zu starten, mehrmals. Das Ergebnis bleibt immer gleich. Es besteht keine Verbindung zum Internet. Wie kann das sein? Die SIM-Karte ist seit heute nicht mehr gültig, fällt es mir ein. So ein verdammter Mist. Die Gedanken, die mir durch den Kopf sausen, überschlagen sich. Soll ich umkehren, um die Karte mit der neuen zu tauschen? Nein, das bedeutete sechs Kilometer zusätzlich und würde meinen Lauf kaputt machen, bevor ich richtig gestartet bin.

Ich möchte heute bis nach Hameln laufen, das sind grob 67 km. Da packe ich mir nicht ohne Not noch ein paar Zusatzkilometer drauf. Überhaupt anzukommen wäre schon ein großer, großer Erfolg. Es wäre nichts weniger als der weiteste Lauf meines Lebens. Woher ich die Zuversicht nehme? Innerhalb von rund zwei Wochen war ich drei Mal über 50 km gelaufen und hatte bei jedem einzelnen Lauf das Gefühl, dass da noch mehr ginge. Der Respekt bleibt dennoch. Und bis sich entscheidet, ob ich ankomme oder nicht, ist es noch ein weiter Weg. Zunächst mal geht es weiter durch das morgendliche Dunkel. Es ist halb sieben Uhr morgens und das Tageslicht noch lange nicht in Sicht.

Probleme, Probleme, Probleme

Mir fällt ein, dass ich mit meiner Frau keinen genauen Treffpunkt abgesprochen habe gestern Abend. Hameln ist nicht gerade ein Dorf und es ist nahezu ausgeschlossen, dass sie mich per Zufall entdecken wird. Mein Ziel ist die Statue des Rattenfängers, nur weiß sie das nicht. Ich beruhige mich: Es wird sich schon ein Weg finden. Notfalls wird es in Hameln einen Supermarkt mit kostenlosem WLAN geben. Immerhin habe ich meine EC-Karte dabei, die könnte noch hilfreich werden.

Problem zwei: Vor mir liegen gute sechs Stunden ohne Ablenkung oder Unterhaltung. In der Regel lasse ich mich von Podcasts oder Hörbüchern unterhalten, wenn ich laufen gehe. Heute wird das nichts, ich habe keinen Zugang zum mobilen Internet und die Inhalte, die ich direkt auf meinem iPhone gespeichert habe, interessieren mich aktuell nicht so sehr. Ach, was soll’s. Es ist auch ganz schön, einfach nur der Welt, die mich umgibt, zu lauschen und meinen Gedanken nachzuhängen. Es gibt Tage, an denen mache ich das bewusst. Diesmal dann halt notgedrungen. Wenn man danach nicht mit sich selbst im Reinen ist, wann dann? Das habe ich unlängst irgendwo gelesen und es ist definitiv etwas dran!

Wie ein UFO in der Nacht

Um mich herum ist Nebel aufgezogen, links und rechts Wald. Die Route führt direkt über eine Landstraße, die so früh am Morgen jedoch gänzlich verlassen vor mir liegt. Einzig ein Räumfahrzeug überholt mich. In der Dunkelheit des Morgens wirkt es mit seiner Beleuchtung wie ein UFO. Die Dunkelheit hüllt mich wieder ein, es ist ein bisschen „spooky“. Nach 12 km komme ich wieder in eine Ortschaft, streife sie aber nur am Rand und folge dann einem Fahrradweg neben der Bahnstrecke.

Die Sonne geht auf

Einen Teil der Strecke bin ich schon einmal gelaufen, das weiß ich. Und nun beginnt für die nächsten ca. 10 km ein unattraktiver Abschnitt. Da mein Startpunkt im Osten Hannovers liegt und Hameln im Westen, führt der direkte Weg eben direkt durch die Landeshauptstadt. Nachdem ich in Anderten den Mittellandkanal überquert habe, führt mich die Route zu meiner Überraschung schon wieder hinaus aus der Stadt. Ich befinde mich am Kronsberg im Süden Hannovers. Weil inzwischen der Morgen graut, erfreue ich mich am Grün, bis mich die Stadt wieder hat.

Hinter Hannover gibt es Frühstück

Sie verlassen die Stadt Hannover

Erst nach 24 km werde ich wieder ausgespuckt. Ich freue mich auf das, was jetzt kommt. Unmittelbar hinter Hannover komme ich in die Leinemasch. Die kleinen Ortschaften hier haben es mir irgendwie angetan. Sie scheinen aus der Zeit gefallen zu sein. Das ist natürlich Quatsch, aber sie lösen ein nostalgisches Gefühl in mir aus. Endlich steigt die Sonne über den Horizont. Zeit fürs Frühstück. Heute habe ich aus meiner Kiste mit den aus den Starterbeuteln diverser Läufe angesammelten Leckereien einen Riegel von PowerBar herausgesucht.

Ich hatte etwas in der Art eines Müsliriegels erwartet. Das Teil mutet aber eher an wie ein überdimensionierter Streifen Juicy Fruit-Kaugummi. Genau so schmeckt er auch. Geil, wenn man sich darauf einlässt. Leider hat der Streifen entweder schon zu lange im Keller gelegen oder auf den ersten gut zwei Stunden meines Laufs Frost bekommen. Wie dem auch sei, er ist steinhart. Ich brauche längere Zeit, um ihn mir Stück für Stück einzuverleiben.

Kein Berg, aber gleich geht’s aufwärts

Je länger ich laufe, desto klarer wird mir, dass ich nun wohl der gleichen Route folge, wie bei meinem Lauf zum Wisentgehege im letzten April. Das heißt: Ich weiß genau, was noch auf mich zukommt. Der Weg führt mich schnörkellos durch die Orte Wilkendorf, Arnum, Ohlendorf und Hiddestorf. Dahinter endet der Fahrradweg und ich muss auf der Straße laufen. Hier ist das nicht allzu schlimm, weil wenig Verkehr herrscht.

Vor dem Marathon steht der Berg

Trotzdem: Die Route könnte besser sein. Allerdings war bei der Routenplanung nicht Schönheit Trumpf, sondern ein von der Distanz her machbarer Weg. Für Umwege hatte ich keinen Spielraum. Was ich auch weiß: Gleich geht es aufwärts. Nach ein paar Kilometern auf der Straße muss ich nach Lüdersen, das auf einer Erhebung liegt. Beim letzten Mal, war ich am Ende der Steigung so blau, dass ich kurz stehenblieb. Diesmal geht es mir körperlich wesentlich besser und ich setze meinen Lauf ohne Stopp fort.

Als nächstes komme ich durch Bennigsen, kann mich glücklicherweise noch entsinnen, dass ich eine kleine Gasse nehmen muss, um auf dem richtigen Weg zu bleiben und nähere mich dann dem Unausweichlichen. 80 Höhenmeter stehen mir bevor. Meine Erinnerung daran ist noch ziemlich frisch. Beim letzten Lauf zwang mich allein der Anblick des Anstiegs in die Knie und ich setzte mich entnervt und platt ins Gras, ehe ich genug Mut gesammelt hatte, den Anstieg gehend in Angriff zu nehmen. Heute habe ich bessere Beine, bin einfach besser in Form und nehme die Anhöhe im Laufschritt. Selbstverständlich geht das in die Beine, aber ich möchte die Bestätigung für meine Leistungssteigerung.

Der Anstieg zwischen Bennigsen und Völksen hat es in sich, belohnt aber mit einem spektakulären Bild

Zum Ende des Anstiegs blitzt die tief stehende Sonne immer wieder durch das Unterholz und ich bin in Hochstimmung. 42 km liegen hinter mir und ich beginne den Abstieg nach Völksen. Ab hier kenne ich den Weg nicht, das Abenteuer beginnt. Doch ehe es richtig losgeht, folgt die erste Ernüchterung. Laut geplanter Route soll ich auf die vierspurige Bundesstraße, die hier keinen Fahrradweg hat. Das ist mir definitiv zu heikel und ich versuche intuitiv einen Weg parallel zur Bundesstraße zu finden. Mein Handy kann ich nicht zu Rate ziehen.

Das Knie muckt rum

Als ich meine, einen ziemlich direkten Weg nach Springe, dem nächsten Ort auf meinem Weg, gefunden zu haben, hält mich ein mittelgroßer Hund auf. Frauchen kommt dem aggressiven Vierbeiner nicht hinterher und ich bleibe vorsichtshalber stehen, gehe sogar langsam rückwärts. Es dauert, bis die Besitzerin aufgeschlossen hat, für eine Entschuldigung sieht sie sich aber anscheinend nicht genötigt. Leute gibt es. Die Serie an Enttäuschungen will dennoch nicht abreißen. Kaum habe ich meinen Weg fortgesetzt, endet der Weg oberhalb der Bundesstraße. Von einem Überweg ist weit und breit nichts zu sehen und auch ein Fahrradweg ist nach wie vor nicht vorhanden. Linker Hand befinden sich Gleise. Was nun? Ich kann zurück nach Völksen laufen und einen neuen Weg suchen, irgendwie die Bundesstraße 217 überqueren oder die Gleise. Ich entschließe mich zu Letzterem, gehe durch den Schotter und gelange so auch gleich auf die andere Seite der Bundesstraße.

Wo geht’s lang?

Mein Knie meldet sich jetzt, da ich eine andere Bewegung mache. Nicht stark, aber ich spüre einen leichten Scherz, wenn ich das Bein durchdrücke. Die vielen langen Läufe der letzten Woche haben da wohl ihre Spuren hinterlassen. Mehr nerven mich aber die Probleme mit meiner Route. Innerlich beginne ich ich von meinem Ziel zu verabschieden. Durch die Umwege, die ich bereits in Kauf nehmen musste und die vielleicht noch warten, verlängert sich die Distanz zu meinem Ziel immer mehr. Ich bin nicht mehr so frisch, dass ich mir noch mindestens 25 weitere Kilometer vorstellen kann. 45 km habe ich bereits in den Beinen und der weitere Weg ist ungewiss.

Eine Ehrenrunde durch Springe

Nach 55 km am Ziel auf dem Marktplatz von Springe

Jenseits der Bahnstrecke finde ich relativ schnell einen Fahrradweg, der mich nach Springe führt. Da wollte ich hin, so weit also ist alles gut. Nur ist in mir der Entschluss gereift, dort den Lauf zu beenden. Weil ich früher dort ankomme als gedacht – die Uhr zeigt 49 km – drehe ich noch ein paar Runden durch den Ort. So viel habe ich noch im Tank, dass ich den Lauf noch etwas ausdehnen kann. Zwei Mal durchquere ich die Innenstadt und gehe dann auf die Suche nach einem Supermarkt. Irgendwo muss es doch einen Markt mit WLAN geben.

Wegen der Planänderung bin ich jetzt definitiv darauf angewiesen, irgendwie Kontakt mit meiner Frau aufzunehmen. Endlich finde ich einen LIDL und lerne schließlich, wozu Supermärkte freies WLAN anbieten. Wieder was gelernt. Ich verbinde mich kurz mit dem Internet und kläre die Details. In einer knappen halben Stunde werde ich am Bahnhof eingesammelt. Das schreit geradezu danach, dass ich noch eine Runde drehe. Ich hänge an die bisherigen 52 km nochmals drei und stoppe endgültig bei 55 km – mitten im Herzen von Springe. Länger bin ich in einem Training noch nie gelaufen. Oder besser noch: So lange bin ich noch nie am Stück gelaufen, ohne durch einen Leistungseinbruch zum Gehen gezwungen worden zu sein. Darauf gönne ich mir einen Kaffee! Der hilft auch gegen die Kälte, die mich jetzt gnadenlos befällt. Dann lasse ich mich geschafft und zufrieden nach Hause kutschieren.

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