Lauftagebuch

Salzberge, Kirchen und mein 2. Ultralauf

Als ich am vergangenen Samstag gegen 7 Uhr morgens meine Uhr startete, lagen 46 geplante Kilometer und gut vier Stunden Laufen vor mir. Ich hatte ein recht gutes Bild von dem, was mich erwartete und hatte mich entsprechend darauf vorbereitet.

Schon 14 Tage vorher hatte ich einen Versuch unternommen, von meiner Haustür bis zum Marktplatz von Hildesheim zu laufen, hatte aber nach 39 km abgebrochen. Aus dem Scheitern hatte ich meine Lehren gezogen und die Strecke in einigen Punkten angepasst. Weniger schöne Teilabschnitte wollte ich so vermeiden, vor allem den Abschnitt zwischen Ahrbergen und Giesen, auf dem ich mir vor zwei Wochen eingestehen musste, dass ich es heute nicht schaffen würde. Es war nicht nur ein unansehnliches Stück Landstraße, es hingen jetzt auch schlechte Erinnerungen daran. Weil es nicht allzu viele Verbindungen zwischen diesen beiden Orten gibt, war die neue Strecke einen Kilometer länger. Das war der Preis, den ich zahlen musste, um vor den Erinnerungen wegzulaufen. Ich erhoffte mir aber auch, dass die neue Strecke ein wenig schöner war. Sorge machte mir nur, dass ich nun direkt durch die Giesener Berge würde laufen müssen.

Die Strecke meines Laufes

Wasser und Gel halten den Läufer bei Laune

Aber das Problem lag noch in weiter Ferne. Zunächst musste ich erst einmal bis dorthin kommen und es gab reichlich Dinge mit denen ich mich vorher beschäftigen musste. Beim Laufen ist man eh gut beraten, wenn man nicht zu viele Gedanken auf Dinge verschwendet, die noch weit weg sind.

Zunächst lief ich wenig spektakulär durch die bekannten Straßen meiner unmittelbaren Nachbarschaft. Einzig der Laufrucksack mit prall gefüllter Trinkblase nervten mich zu diesem Zeitpunkt ein bisschen. Das zusätzliche Gewicht drückte auf meine empfindliche linke Schulter. Naja, das Gewicht würde ja abnehmen, je weiter ich lief. Trinken war einer der Punkte, die ich im Vergleich mit dem vorigen Versuch verbessern wollte. Anstatt kleiner Flaschen hatte ich diesmal 2 Liter in einer Trinkblase bei mir, auch wenn es wesentlich kühler war. Entsprechend der allgemeinen Empfehlungen, hielt ich mich daran, alle 25 – 30 Minuten zu trinken und musste am Ende feststellen, dennoch nicht mehr als 400 ml getrunken zu haben. Versetzt hatte ich das Wasser insgesamt mit vier Gramm Salz, um den Mineralstoffverlust durchs Schwitzen abzupuffern. Ideal war die Menge an Salz nicht, für meinen Geschmack war das Wasser etwas zu salzig und je länger ich lief, desto mehr kratzte es im Hals.

Was das Laufen selbst anging, lief ich ziemlich entspannt in einer Pace zwischen 5:20 min/km und 5:30 min/km. Nach ungefähr 13 km begann ich damit, neben Wasser auch Gels zu mir zu nehmen. Drei Stück hatte ich mir eingepackt, zusätzlich einige Power Shots, eine Art kohlenhydratreiche Gummis. Das würde hoffentlich reichen. Hochgerechnet hatten ein Gel und ein Shot knapp 50 g Kohlenhydrate, was der maximalen Aufnahmemenge pro Stunde entsprach. Für die nächsten drei Stunden hätte ich also ausreichend Stoff am Start.

Jenseits der A7

Drei Kilometer später folge ich dem neuen Streckenverlauf. Diesmal lief ich weiter westlich, ließ den Kaliberg von Sehnde zu meiner linken und überquerte wenig später den Mittellandkanal. Verglichen mit dem Erstversuch ging es mir heute – subjektiv beurteilt – besser. Objektiv blieb eines festzuhalten: Meinen Füßen ging es gut. Vor zwei Wochen hatte ich auf die falsche Kombination aus Schuh und Socken gesetzt und nach 20 km die Socken ausziehen müssen. Wohlwissend, dass das böse Folgen haben würde. Davon heute keine Spur und die Wunden an den Füßen waren inzwischen auch verheilt.

Jenseits der A7 – noch 20 km

Wehmingen, Wirringen, Müllingen – Ich war verwirrt, klang alles ähnlich und ich verlor die Peilung. Egal, wichtig war für mich, dass ich immer noch guten Mutes war. Von großer Erschöpfung konnte noch keine Rede sein und für die Orientierung hatte ich meine Uhr. Die sagte mir, wo es langging. Nach 25 km kreuzte ich die A7, das war eines meiner Zwischenziele. Einen Kilometer später stoppte ich auf einer Anhöhe, die einen weiten Blick auf die im Süden liegenden Hügel erlaubte. Ein toller Anblick für jemanden, der Berge liebt, aber im flachsten Flachland lebt.

Es gab mir das Gefühl, mich in eine andere Region bewegt zu haben, allein mit meinen Füßen. Zudem redete mir ein, dass ich Hildesheim von hier aus schon sehen konnte. Möglicherweise entsprach das sogar den Tatsachen. Es beflügelte mich auf jeden Fall und ließ mich kurz in Hochstimmung geraten. Wenig später war ich schon in Gödringen, von hier war es nur ein Katzensprung bis in den Ort, in dem ich bis zu meinem achten Lebensjahr aufgewachsen war.

Lauf in die Vergangenheit

Und immer noch ging es mir gut. Das war definitiv anders als vor zwei Wochen. Da hatte ich schon eine längere Pause machen müssen und den Lauf schon halb abgeschrieben. Heute lief es noch immer ziemlich flüssig. Eine kurze Viertelstunde später war ich also in Ahrbergen. Was mir schon letztens aufgefallen war, bestätigte sich erneute. Der Ort war geschrumpft. Nicht wirklich, nur die Erinnerungen waren größer als die Realität, Distanzen waren nicht so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Als Kind waren die Dimensionen eben andere. Heute brauchte ich vom alten Wohnhaus zum Bäcker kaum eine halbe Minute. Der Weg hinaus nach Sankt Peter und Paul, der uralten Kirche auf der Westseite der Innerste, maß maximal einen Kilometer, als Kind war es eine abenteuerliche Reise hinaus aus dem Dorf gewesen.

Apropos Sankt Peter und Paul. Mein letztes Gel hatte ich mir genau für diesen Moment aufgehoben und saugte es nun in mich hinein. Ermüdungserscheinungen machten sich langsam in mir breit und ich hoffte, dass mir die zusätzlichen Kohlenhydrate einen kleinen Schub geben würden. Durch die Feldmark von Giesen näherte ich mich nun dem Wahrzeichen der Gemeinde, dem „Kalimandscharo“, dem weithin sichtbaren Kaliberg. Ein Monument meiner Kindheit, das hinter dem Sportplatz aufragte und als Wetterorakel fungierte.

Ein Berg zwingt zum Gehen

6 % Steigung – Die Giesener Berge

Kaum hatte ich das alte Werksgelände am Kalischacht passiert, stieg das Gelände spürbar an. Mir brach der Schweiß aus, aber noch war die Steigung zu meistern. Unweit vor mir sah ich allerdings bereits den bewaldeten Hügel hinter der Ortschaft, das Naturschutzgebiet der Giesener Berge lag vor mir und die nächste Steigung ließ mich frösteln. Das ging ganz schön steil hoch! Aber was muss, das muss. Frischen Mutes nahm ich die Anhöhe so mutig, wie es mir möglich war, bis ich auf halbe Höhe erkennen musste, dass das ein ziemlich hoffnungslose Angelegenheit werden würde. 6 % Steigung waren nach 38 km zu viel für meine Beine – so frisch war ich dann doch nicht mehr. Der Laktatspiegel stieg ungefähr so an wie der Berg.

Ich machte eine Pause und ließ meinen Blick nach Osten schweifen. Hier müsste doch eigentlich das Schloss Marienburg liegen, das Ziel meines ersten Ultralaufs… tatsächlich, das war es! Weil ich mich zuhause noch nicht gemeldet hatte, nutzte ich die Gelegenheit für eine kurze Wasserstandsmeldung im Telegrammstil: „Ich bin jetzt kurz hinter Giesen. Hier geht es schön bergauf, weshalb ich kurz mal pausiere. Weit ist es nicht mehr. Eine gute halbe Stunde, schätze ich. Je nachdem, wie ich durchhalte.“

Kurz war ich Sorge, dass jetzt der große Einbruch käme. Die Distanz auf meiner Uhr prüfte ich absichtlich nicht, weil ich mich sonst nicht selbst täuschen könnte. So redete ich mir ein, dass ich nur noch über den Berg musste, dann wäre ich da. Eigentlich auch eine schöne Metapher: Über den Berg kommen.

Ausblick bis nach Hildesheim

40 km – Hildesheim ist in Sicht!

Nach der Pause setzte ich den Weg fort und war froh, dass der Anstieg schon 200 m später endete. Meine Route führte mich jetzt am Rande des Waldes entlang. Hügeliges Gelände, rutschiger Untergrund. Das und die Angst vor dem Einbruch ließen mich vorsichtiger laufen. Fast exakt nach 40 km hatte ich es geschafft, ich war auf der östlichen Seite der Giesener Berge und in der Tat kannte ich das Gelände hier. Erst vor eineinhalb Jahren war ich hier nach meiner Hochzeit entlanggelaufen. Schöne Erinnerungen!

Zu meinen Füßen lag die Stadt nun in greifbarer Nähe und doch machte mir die restliche Strecke Angst. Langsam war ich an einem Punkt angelangt, an dem das Laufen Arbeit wurde. Immerhin ging es nun ein gutes Stück bergab und je näher ich der Stadt kam, desto kleiner wurde die restliche Strecke. Wie weit mochte es wohl noch sein? Drei Kilometer, vier? Ich wollte noch immer nicht nachsehen. Die Navigationsbefehle auf meiner Uhr jedenfalls zeigten mir, dass ich in 2,5 km wieder abbiegen sollte. Ein schönes Zwischenziel, das würde ich auf jeden Fall noch ohne Pause schaffen.

Noch immer ging es überwiegend bergab, was nach vier Stunden allerdings auch einigermaßen schmerzhaft war. Bergauf bedankte sich die Wade, bergab die Vorderseite des Oberschenkels. So stelle ich mir die Heartbreak Hills in Boston vor. Nächster Navigationsbefehl, nächstes Zwischenziel. Diesmal waren es bis zum nächsten Navigationspunkt nur ein paar hundert Meter. Kleinvieh macht auch Mist und danach würde es nicht mehr weit sein. Hoffte ich. Dann die böse Überraschung: 3,5 km bis zum Ziel stand auf meiner Uhr. Der erste Impuls, der darauf folgte: Schluss jetzt!

Kurzer Stopp am Weltkulturerbe

Stattdessen lief ich weiter. Mühsam und spürbar langsamer als zuvor, aber ich machte weiter. So würde ich den Rest vielleicht auch noch hinbekommen, ohne stehenzubleiben. Und selbst wenn, eine Pause wäre keine Schande. Zu meiner Linken flankierte mich die Innerste und eigentlich war es schade, dass ich jetzt so platt war und mein Blick ins Leere ging. Ich war zu sehr mit mir beschäftig, um das Wegstück hier besser genießen können. Ausgerechnet jetzt kamen mir haufenweise Läufer entgegen. Ich fürchtete, einen nicht allzu guten Eindruck abzugeben, grüßte aber wenigstens freundlich weiter.

45 km! Kurze Pause. Inzwischen hatte ich die Entfernung auf der Uhr überprüft. Weil ich kurz unsicher war, wo entlang ich laufen musste, nahm ich das als Steilvorlage für eine Pause. Kurz nur, sonst würde ich nie mehr in Gang kommen. Nach kurzem Hin-und-Her schmiss ich zur Sicherheit auch noch den Navigator von Google an. Keinen Meter mehr als notwendig jetzt! Doch noch immer waren es zwei Kilometer, die ich hinter mich bringen musste. Die Strecke war entgegen der Planung um einen weiteren Kilometer gewachsen. Ich hatte ein paar Extrameter gesammelt, Bonusmeilen sozusagen.

St. Michaelis – Das Ziel ist nahe

Alter, das tat jetzt weh und mehr als einmal dachte ich: „Mit Laufen hat das nicht mehr viel zu tun, du hebst ja nicht mal mehr die Füße richtig!“ Doch das innere Bild entspricht nicht immer dem, was man von außen sieht. Kam ich an Fensterfronten vorbei, sah ich um Längen frischer aus, als ich mich fühlte.

Fotostopp am Weltkulturerbe

Dann endlich erkannte ich, wo ich mich befand und schlug entgegen meiner Navigationshelfer spontan den Weg zu St. Michaelis ein. Das war nicht geplant, kam mir aber genau richtig für einen Fotostopp. Die Kirche ist Teil des Welterbes und einfach ein imposanter Anblick. Ziemlich fertig pflanzte ich mich auf eine der Bänke, fotografierte und rief meine Frau an.Die war inzwischen in Hildesheim eingetroffen, aber laut übermitteltem Standort noch 1,4 km entfernt. Mann ey! Ich hatte doch so schon fast 47 km auf dem Tacho.

Posen vor dem Weltkulturerbe

Gut, dass die 1,4 km nur für Autos galten. Zu Fuß war es wesentlich kürzer und nach der Fotopause ging es auch wieder ein wenig leichter. Ich näherte mich jetzt meinem Ziel in dem sicheren Wissen, dass ich es schaffen würde und erreichte den Marktplatz von Hildesheim nach 47, 2 km und 4:20 Std.

Nur wo war die Familie? Ich stoppte die Uhr, setzte mich auf die Stufen des Hotels und glotzte auf die Marktstände. Hunger! Ich hatte ganz, ganz üblen Hunger. Einen Anruf später war klar: Bis zum Auto musste ich noch einige hundert Meter. Ich ging. Für heute war das Thema Laufen durch. Auch wenn es mir überraschend gut ging, so viel Energie wie mein jüngster Sohn, der mir freudestrahlend entgegen rannte, hatte ich nicht mehr. Ein Anblick, der mich stolzer und glücklicher machte, als das Wissen, gerade 47 km zu Fuß gelaufen zu sein.

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