Auf dem Weg zum Ziel beim 30. Hannover-Marathon
Wettkampfberichte

Papa, du bist meine Rakete – 30. HAJ Hannover Marathon

Hamburg, Dresden, Mainz, Köln und Münster dazu die „stay-at-home“-Version des Hannover Marathons und einige Wald-und-Wiesen-Läufe. Fünf Jahre habe ich mich daran versucht, den Marathon unter drei Stunden und fünfzehn Minuten zu laufen. Fünf Jahre, in denen ich mich ans Scheitern gewöhnt und beinahe damit abgefunden hatte, dieses Ziel nicht mehr zu erreichen – bis ich in Elternzeit ging.

Nur einmal bin ich meiner Wunschzeit nahe gekommen, sonst habe ich sie immer recht deutlich verfehlt. Das wird heute anders sein, da bin ich mir sicher und heilfroh, dass ich Ablenkung habe. Selbst jetzt noch, während ich im Startblock stehe. Mein bester Freund Nils leistet mir Gesellschaft, auch wenn er sich heute keine hohen Ziele gesteckt hat. Hätte der Jubiläumslauf so stattgefunden wie geplant, wäre er heute mit mir gemeinsam auf drei Stunden gelaufen. Doch inzwischen sind zwei Jahre ins Land gezogen und Nils laboriert an einer Wadenverletzung.

Ich hingegen bin in so guter Form, dass ich mein ursprüngliches Ziel nach oben korrigiert habe, um ganze 15 Minuten. Nicht aus Übermut oder gar leichtfertig, sondern weil ich mir mehr zutraue, als die 3:10 Std., die mir bei meiner Leistungsdiagnostik prognostiziert wurden. Leicht gemacht habe ich mir die Entscheidung aber wahrlich nicht. Bis vor zwei Tagen haben ich mich damit herumgeschlagen, bis ich mir selbst eingestehen konnte, dass ich auf drei Stunden laufen würde. Karten auf den Tisch!

Ziel: Sub 3!

Drei Stunden für den Marathon? Bis zum letzten Herbst ganz klar etwas, was andere Läufer erreichen können, für mich selbst hielt ich das für ausgeschlossen, einfach außerhalb meines Leistungsbereichs. Bis zu dem Leistungssprung, der seit einem guten halben Jahr eingesetzt hat. Die Gründe dafür sind mir noch immer nicht gänzlich klar, aber eigentlich kommen nur zwei Dinge in Frage. Ein Supplement, das ich gegen meinen niedrigen Eisenwert nehme oder das hohe Pensum, das ich seit meiner Rippenverletzung im letzten Herbst absolviere. Elternzeit sei Dank!

Der Grund für die Leistungsentwicklung ist mir aber in diesem Moment total egal. Wichtig wird es gleich, wenn der Startschuss fällt und das ich mir vorstellen kann, was ich mir vorgenommen habe. Der Zuspruch, den ich von einigen anderen Marathonbotschaftern erhalten habe, tat gut und ich bin wegen der ganzen Ablenkung erstaunlich locker. Klar, ich bin nicht frei von Nervosität, aber das Treffen mit den übrigen Botschaftern am Vortag, das gemeinsame Frühstück und die Fahrt zum Start, haben mich davor bewahrt, vollends zu einem nervlichen Wrack zu werden. Seit ich den Entschluss am Freitag gefasst hatte, entwickelte ich mich zusehends zu einem Nervenbündel.

Vor dem Start des 30. HAJ Hannover Marathons
Vor dem Start des 30. HAJ Hannover Marathons

So weit vorne wie heute bin ich bei einem großen Stadtmarathon noch nie losgelaufen. Eigentlich bin ich für Block B eingeteilt, aber ich habe mich in den Bereich der „As“ geschoben. Ich denke, das geht in Ordnung. Schließlich plane ich ein wesentlich schnelleres Tempo als bei der Anmeldung hinterlegt. So werde ich niemanden im Weg stehen. Die Handbiker sind bereits auf der Strecke und auch die Teilnehmer an der Deutschen Marathonmeisterschaft sind gerade auf die Strecke gegangen. Wir rücken auf, nähern uns der Startlinie, dann setzt der Countdown ein. Faust auf Faust mit Nils, durchatmen und dann geht es los – Feuer frei!

Ein überraschendes Plakat

Glücklicherweise ist es so weit vorne im Feld nicht so dicht gedrängt, weshalb ich mein Tempo relativ schnell finde. Es fühlt sich gut an. Das habe ich auch schon anders erlebt. Genau kann ich mich noch an den Marathon in Mainz erinnern, wo ich auf dem ersten Kilometer kaum glaube konnte, dass ich dieses Tempo für 42 km anschlagen soll. Vier Minuten und zwei Sekunden brauchen wir für den ersten Kilometer – das ist 13 Sekunden schneller als das geplante Durchschnittstempo. Neben mir murmelt ein Läufer, dass das Tempo ein bisschen hoch sei. Auch die Pacemaker müssen sich erst „eingrooven“.

Nach knapp zwei Kilometern stehen an der nordöstlichen Ecke des Maschsees meine Frau und drei meiner Kinder. Der Fünfjährige hält ein Plakat hoch: „Papa, du bist meine Rakete!“. Davon wusste ich nichts und es zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Auf der langen Geraden an der Ostseite des Maschsees überholen wir zahlreiche langsamere Starter aus der vor uns gestarteten Meisterschaft. Ein Trainer steht am Rand und brüllt in herrischem Tonfall einem Läufer Anweisungen zu. Weil er nicht deutsch Spricht, verstehe ich nichts, aber der Tonfall ist deutlich. Ich raune meinem Nebenmann zu, dass das deutliche Worte waren – und das nach gerade mal zwei Kilometern. Kurz darauf passieren wir eine Digitalanzeige, die die Geschwindigkeit misst. Wir laufen zwischen 14 und 16 km/h, das ist voll im Plan. Der grüne Smiley scheint das mit seinem Grinsen unterstreichen zu wollen.

Papa, du bist meine Rakete
Papa, du bist meine Rakete – Meine persönliche Unterstützung beim 30. HAJ Hannover Marathon

Zwei alte Bekannte

Nach fünf Kilometern verlassen wir für kurze Zeit die Stadt und rennen durch die Leinemasch südlich von Hannover. Herrlich! Das Wetter ist kühl und sonnig, die Bedingungen sind ideal und jetzt hat der Lauf etwas von einem Landschaftslauf. Dass hier nicht viel Publikumsverkehr herrscht, ist zu diesem Zeitpunkt völlig egal. Ein paar Prozent verspreche ich mir von den Zuschauern später, jenseits der 30 km. Nach rund acht Kilometern kommen wir zurück in die Stadt, sechseinhalb Kilometer führt der Kurs nun über die Hildesheimer Str. Ich bin jedes Mal aufs Neue froh, dass dieser Abschnitt so früh im Rennen kommt, wenn man noch so frisch ist, dass einem die lange Gerade mental nicht den Stecker zieht. Zuerst noch gewerblich geprägt, ändert sich das Bild am Rand der Straße je näher wir dem Zentrum kommen. Wir nähern uns quasi wieder dem Start des Rennens.

„Karsten ist heute aber auch schnell unterwegs!“, höre ich es plötzlich. Ich habe mich doch nicht getäuscht. Einer der Läufer vor mir ist Kai, den ich – wie seinen Bruder – vom Fußball kenne. Tim ist auch in der Gruppe und wir laufen ab hier gemeinsam. Kai und Tim waren bis vor einigen Jahren sehr ambitioniert unterwegs, vor allem Kai hat beachtliche Zeiten aufgestellt. Beide haben bereits Zeiten von unter drei Stunden vorzuweisen. Wir tauschen uns über unsere Ziele aus und passieren nebenbei die 10-km-Zwischenzeit. 41:51 min, das ist nicht zu schnell und voll im Soll. Überpaced habe ich bisher nicht, auch wenn ich leicht vor den Pacemakern laufe. Ich bin lediglich dem Rat einiger Botschafter gefolgt, um so dem Gedränge an den Verpflegungsstationen zu entgehen. Wobei das Gedränge sich im Vergleich mit dem hinteren Feld sowieso in Grenzen hält.

Gänsehaut am Aegi

Durch das Laufen vergeht die Zeit auf der Hildesheimer Straße fast unbemerkt. Was mir jedoch auffällt: Meine Uhr piept früher und früher, inzwischen schon weit vor den offiziellen Kilometerschildern. Das kommt vor, weil die Uhren gewisse Toleranzen haben, aber die Abweichung ist bereits jetzt so beträchtlich, dass ich beim 13. Kilometer die Runde per Hand stoppe. Das ist wichtig, damit ich meine Pace besser kontrollieren kann.

Am Aegi - 30. HAJ Hannover Marathon
Am Aegi – 30. HAJ Hannover Marathon

Die Lauferei auf der Hildesheimer endet ungefähr nach 14 km. Meine Familie hat sich kurz vor dem Aegidientorplatz – kurz Aegi – positioniert und ruft mir Aufmunterndes zu. Meine Begleiter müssen über meine „Fankurve“ ebenso schmunzeln wie ich. Es ist schon toll, wie solche kleinen Gesten motivieren können. Am Aegi selbst sind wie eh und je die Zuschauer zahlreich, weil der Platz nur wenige Meter vom Start und Ziel entfernt liegt. Es ist einer der stimmungsvollen Höhepunkte der gesamten Strecke und ein Garant für Gänsehaut. Alles mischt sich hier: Musik donnert aus Boxen, der Moderator überschlägt sich, die Menschen, die bis dicht an die Strecke stehen, klatschen, rufen, pfeifen. Man kann sich kaum dagegen wehren, hier einen Schritt schneller zu laufen. Und in der Tat überziehen wir ein bisschen, laufen mit einer Pace um die 4 Minuten.

Das sollten wir uns nicht zu häufig erlauben, wenn wir uns nicht schon weit vor dem Ende des Laufs abschießen wollen. Die Volksfeststimmung gibt uns zwar einen kleinen Vorgeschmack auf den späteren Einlauf ins Ziel, das man von hier aus problemlos erahnen kann, – noch ist es aber nahezu 30 Kilometer entfernt. Ich scherze mit Kai: „Lass uns einfach geradeaus durchlaufen.“ Stattdessen biegen wir rechts ab zur Oper, dann geht es am Bahnhof vorbei und zack, sind 15 Kilometer geschafft.

Ein kleines Tief

Ich laufe alleine, weil Kai und Tim zurückgeblieben sind. Ihre Familie stand am Rand und ich bin mein Tempo weitergelaufen. Auf der Rückseite des Bahnhofs wird es meiner Erfahrung nach etwas ruhiger. Nach dem Spektakel in der Innenstadt ist das ein gefährlicher Moment, in dem es einen kleinen Dämpfer geben kann. Bei mir ist davon heute nichts zu spüren, ich laufe weiter mein Tempo und fühle mich noch immer gut. Vorbei an der Hochschule für Musik dringen wir in Europas größten Stadtwald ein. In der Eilenriede schließt Kai mit den Worten: „Das sieht noch gut aus bei dir.“, zu mir auf. Tim ist nicht mehr dabei und wird bis zum Schluss auch nicht mehr zu uns stoßen. Meine Uhr weicht schon wieder ziemlich von den Schildern ab, die in regelmäßigen Abständen am Streckenrand hängen. Noch einmal stoppe ich eine manuelle Runde.

Nachdem wir den östlichsten Punkt der Strecke erreicht haben, bewegen wir uns mit großen Schritten auf die Halbmarathonmarke zu. Meine Duchtgangszeit ist eine flache 1:28 Std., das ist immerhin meine fünftbeste Halbmarathonzeit und nur 1:54 min langsamer als bei meiner Bestzeit. An der Noltemeyerbrücke überqueren wir den Mittellandkanal und die Strecke knickt wieder in Richtung Westen ab, es geht zurück zum Zentrum. Während wir uns erneut am Rande der Eilenriede bewegen, spüre ich erstmals leichte Probleme, die Pace aufrechtzuerhalten. Bis zum Ziel ist es noch ein weiter Weg und sollte mich ein Einbruch schon so früh ereilen, ich könnte mir eine neue Bestzeit abschminken. Positiv denken!

Noch ist es lange nicht so schlimm, dass von einem Einbruch oder ähnlichem die Rede sein kann, es ist nur so, dass die spielerische Lockerheit flöten gegangen ist, die ich noch vor fünf oder zehn Kilometern gespürt habe. Dazu zickt mein Magen herum, weshalb ich zuletzt auch die Verpflegungsstationen nicht mehr angelaufen habe. Anfänglich hatte ich an jedem Stand Wasser und – wo vorhanden – auch Isogetränke zu mir genommen. Im meinem Bauch schwappt es inzwischen allerdings gefährlich und ich will nichts riskieren. Glücklicherweise ist es nicht so warm, dass die Flüssigkeitsaufnahme allzu kritisch ist, aber zumindest die Gels versuche ich weiterhin regelmäßig zuzuführen.

Toni im Nacken

Mein Ernährungsplan, den ich mir vor dem Rennen zurechtgelegt hatte, sah vor, dass ich pro Stunde zwei Gels zu mir nehmen würde, das wären 80 g Kohlenhydrate und damit nur zehn Gramm unter dem Maximum, dass pro Stunde verarbeiten kann. Bisher habe ich mich strikt an meinen Plan gehalten, muss mich aber in diesem Moment dazu zwingen, die dritte Packung zu öffnen. Runter wie Öl geht’s nicht, aber Hauptsache es bleibt drin.

Woran ich merke, dass ich nicht mehr so locker-flockig dahinfliege, ist, dass ich mit dem Rechnen beginne. Solange es läuft wie von selbst, gibt es keine Notwendigkeit, sich mit Rechenspielen herumzuschlagen. Mit der ersten kleinen Schwäche, beginnt nun das Nachdenken. Wie viel Puffer hätte ich eigentlich im Fall der Fälle? Was, wenn mir jetzt schon der Saft ausgeht? Reicht es dann wenigstens noch für eine neue Bestzeit. Ich muss an Toni denken, der heute kurzfristig den 3:15-Pacemaker gibt und sonst mit mir zusammen gelaufen wäre. Mit jedem Kilometer, den ich in meiner Pace hinter mich bringe, vergrößere ich meinen Abstand zu ihm, wächst der Puffer auf die Bestzeit. Würde er mich einholen, wäre der Traum einer neuen Bestzeit ausgeträumt. Aber für diesen Fall hatte er angekündigt, mich bis ins Ziel zu brüllen, zu schieben, zu schleifen. Das wollte ich mir ersparen – und ihm.

Nach 25 km komme ich am Lister Turm vorbei. Erneut begrüßt mich hier meine Familie mit Plakaten und lauten Anfeuerungsrufen. Die legen heute eine beachtliche Strecke mit ihren Fahrrädern zurück für mich! Das gibt mir Auftrieb in meinem kleinen Tief. Von außen wirke ich noch frisch, sagt mir meine Frau später. Innen sieht es nicht ganz so gut aus. Die Kilometerzeiten unterstreichen mein Gefühl: Die Kilometer 26 – 28 liegen hinter dem geplanten Schnitt, der letzte Kilometer sogar deutlich. Ganze 17 Sekunden soll ich langsamer gewesen sein.

Ein rasender Reporter begleitet mein Runner’s High

Scheiß die Wand an! Ich beschleunige meinen Schritt, obwohl ich weiß, dass es auch durch das Blätterdach hervorgerufene Abweichungen bei der GPS-Messung sein können. Kilometer 29 ist eine 4:02, es folgt eine 4:04. Meine kleine Läuferwelt ist wieder in Ordnung und bekommt noch mehr Auftrieb.

Am Lister Turm -  30. HAJ Hannover Marathon
Nach 25 km am Lister Turm – 30. HAJ Hannover Marathon
Im Runner's High bei Kilometer 32
Im Runner’s High bei Kilometer 32

Durch die Oststadt sind wir nun auf dem Weg in die List, einem der am besten besuchten Abschnitte der gesamten Strecke. Ich bin auf einmal so gut drauf, dass ich mich dazu entschließe, die Gruppe zu verlassen, mit der ich nun schon mehr als das halbe Rennen laufe. Angeführt wird sie von drei Läufern in blauen Singlets und Splitshorts, die präzise wie ein Uhrwerk ihre Pace von ungefähr 4:15 pro Kilometer laufen. Aktuell scheinen sie mir aber langsamer zu werden und ich reite meine kleine Euphoriewelle. An der Ecke Edenstr./Jakobistr. lauert sie mir erneut auf: Meine Familie!

Ich bin den Tränen nahe und fliege an ihnen vorbei. Gerade hat es mich gepackt, in diesem Augenblick bin ich mir sicher, dass ich genau so weitermachen kann, bis ich diesen verdammten Zielstrich hinter mir habe. Das ist dann wohl ein Runner’s High. „Ich laufe jetzt einfach mal mit!“, kündigt sich ein Reporter des NDR an und heftet sich an meine Seite. Er will tatsächlich einen kurzen O-Ton von mir einholen. Ja, es läuft gut und mein Traum wäre eine Zeit von unter drei Stunden. Dann fällt er zurück. So wie auch ich kurze Zeit darauf.

Innen wie außen sieht’s nicht gut aus

Meine Euphorie schwindet und ich beginne zu überlegen, wann wir denn endlich auf die Vahrenwalder Str. kommen. Das wird der Knackpunkt! Wie eigentlich immer. Die Vahrenwalder ist Beton, eine mehrspurige, schnurgerade Ausfallstraße ohne jeden Reiz, geradezu wie gemacht, um einen Läufer zu diesem Zeitpunk den letzten Nerv zu kosten. Die Gruppe mit den drei blauen inoffiziellen Tempomachern hat mich derweil wieder eingesammelt. Kai ist auch dabei. Er fragt mich, wann wir angreifen, ich muss lachen. An einen Angriff kann ich nicht denken, ich bin vollends ausgelastet damit nicht zurückzufallen. Aber es hilft nicht, die Gruppe lässt mich hinter sich.

Der Abstand vergrößert sich nicht sprunghaft und ich halte die Zielpace bis zum Ende der Vahrenwalder Str., dann liegen 35 km hinter mir. Meine zurückgelegte Zeit beträgt 2:27:27 Std. – noch eine halbe Stunde bis ins Ziel, wenn es gut läuft. Meine Formkurve zeigt allerdings abwärts und vielleicht trägt auch die Umgebung ihr Scherflein dazu bei. Es geht sozusagen vom Regen in die Traufe. Der Vahrenwalder folgt ein gleichfalls demoralisierendes Gewerbegebiet, das von einer Kleingartenkolonie abgelöst wird. Alter Falter! Das hat mir vor Jahren schon einmal den Zahn gezogen.

Dass ich langsamer werde, ist leider nicht mehr abzustreiten und offenbar auch nach außen hin zu erkennen. Eine Helferin versucht mir am Verpflegungspunkt ein Getränk aufzunötigen, obwohl ich ihr freundlich bedeute, dass ich nichts möchte. In meinem Bauch ist Halligalli und ich fürchte, dass ich mich übergeben muss, wenn ich auf die darin befindliche Mischung noch etwas drauf gieße. So kommt es auch, dass ich mein letztes Gel spazieren trage, anstatt es zu essen. Die darin steckenden Kohlenhydrate täten mir sicherlich gut. Nur was hälfe es, wenn ich anschließend am Straßenrand stehen und alles wieder von mir geben müsste.

Der kritische Moment

Im Laufen höre ich, wie eine Mutter ihrem Sohn erklärt, dass da der Ballon für die drei Stunden kommt – und alle, die davor laufen schneller sind. Noch. Aus der aufgeschnappten Erklärung kann ich ahnen, dass die Pacemaker direkt hinter mir laufen. Meine Hoffnung auf einen kleinen Vorsprung, den ich bestenfalls bis ins Ziel retten könnte, ist dahin. Umdrehen ist nicht, aber auf der Guths-Muths-Str. bin ich fällig. Ausgerechnet, als mich Frau und Kinder erneut zum Unterstützten abpassen, überholen mich der erste der Pacemaker und die kleine um ihn versammelte Läufertraube. Das ist ein kritischer Augenblick. Jetzt muss ich kämpfen, physisch und mental. Ich werde nicht dranbleiben können, das realisiere ich sofort, darf mich deswegen aber nicht komplett aufgeben.

Der Moment, als mich der Pacemaker überholt -  30. HAJ Hannover Marathon
Der Moment, als mich der Pacemaker überholt – 30. HAJ Hannover Marathon

Noch fünf Kilometer sind es bis zum Ziel und wenn ich die vernünftig laufe, dann wird es eine super Zeit. Drei Stunden hin oder her. Gebe ich dem aufkeimenden Wunsch nach, einfach eine kurze Gehpause zu machen, verschenke ich Zeit ohne Ende, Sekunden werden dann schnell zu Minuten. Es war ein waghalsiger Versuch, die drei Stunden zu knacken zu wollen, die perfekten äußeren Bedingungen und mein Gefühl hatten mich dazu verleitet, aber ich war wohl noch nicht ganz so weit

Doch wenn ich weiterlaufe und den Einbruch in Grenzen halten kann, wird das eine wesentlich bessere Zeit, als sie mir vorhergesagt wurde und auf jeden Fall eine neue Bestzeit. Meine Frau ruft mir zu, dass es jetzt drauf ankommt, ich genau dafür trainiert habe.

Jetzt zählt es!

Ein bisschen ärgert mich ihre Ansage, weil sie in meinen Ohren wie Hohn klingt, wo doch der Pacemaker gerade ganz offensichtlich abhaut. Der größere Teil meines Verstandes stellt jedoch fest, dass sie recht hat. Jetzt zählt es. „Wir sehen uns am Königsworther Platz!“, ruft sie mir noch hinterher.

Nach einer Rechtskurve führt eine Unterführung in die Nordstadt. Da wird es noch einmal laut werden, das weiß ich. Ich weiß aber auch, dass es nach der Unterführung eine Steigung hinaufgeht, das liegt in der Natur der Sache. Leider. Wie viel Mühe eine derart geringe Steigung in meinem aktuellen Zustand bereiten kann, ist bemerkenswert. Das tut weh. Dafür ist kurz danach an der Lutherkirche richtige Partystimmung. Nicht bei mir, aber die Zuschauer sorgen für Gänsehautatmosphäre – 38 km sind geschafft.

20 Minuten muss ich noch durchhalten, dann ist es geschafft, also bloß nicht nachlassen. Als ich auf die Nienburger Str. komme, liegt zu meiner Rechten der Große Garten. Glücklicherweise muss ich da heute nicht durch. Bis vor einigen Jahren musste man vom Königsworther Platz aus die zwei Kilometer lange Allee zum eigentlichen Barockgarten laufen, dann umkehren und parallel dazu wieder zurücklaufen. Eine mental unglaublich zermürbende Geschichte, weil man sich vom Ziel weg bewegte. Ich bin heilfroh, dass mir und allen anderen das erspart bleibt.

Hinten ist die Ente fett

39 km! An der Universität vorbei gelange ich auf den Königsworther Platz. Von meiner Fangruppen ist nichts zu sehen, bestimmt stehen sie auf der anderen Seite des Platzes, den ich nach eineinhalb Kilometern gleich erreichen werde. Davor muss ich noch zwei Mal die Leine überqueren. Zwischen Kilometer 40 und 41 reicht eine Burschenschaft alljährlich richtiges Bier. Ich schlage das verlockende Angebot aus und kämpfe mich weiter. Abseits der Strecke nehme ich längst nicht mehr alles wahr, doch Fabian und sein Sohn springen mir sofort ins Auge. Ich klatsche kurz ab, ehe ich meinen Weg verbissen fortsetze. Es ist mühsam auf diesen letzten Kilometern.

Königsworther Platz die Zweite. Diesmal lauert meine Familie am Straßenrand und jetzt machen sie ernst. Auf dem Fahrrad begleiten sie mich über das letzte schwere Stück über Brühl- und Leibnizstr., das erzeugt etwas Widerwillen in mir, andererseits unendliche Dankbarkeit. Ich leide auf diesem letzten Kilometer und nur das Ziel kann dem ein Ende setzen. Das kommt aber viel zu langsam näher, im Schneckentempo geradezu. Und so fühle ich mich auch: Als träte ich auf der Stelle. Einige Minuten zuvor hatte ich überschlägig versucht, meine Zielzeit hochzurechnen. Es ist bei dem Versuch geblieben. Irgendwas um die drei Stunden, sogar sub 3 hatte ich mir zurecht gesponnen.

Das war der Zeitpunkt, an dem ich meine Berechnungen in den Wind geschlagen hatte. Denn das konnte seit dem Moment nicht mehr aufgehen, als die Pacemaker mich hatten stehen lassen. Was es nicht einfacher macht, sind die Halbmarathonis, mit denen wir uns die Strecke inzwischen teilen. Es sind die Schnelleren aus dem Teilnehmerfeld, die jetzt schon kurz vor dem Ziel sind. Bei ihrem Tempo fühle ich mich wie ein 30-Tonner auf der Autobahn. Frischer wirken sie auch, doch das täuscht vermutlich. Nach 20 km im Halbmarathon ist es auch hart, jeder leidet in seinem Tempo und auf seiner Distanz.

Die letzten schweren Meter - 30. HAJ Hannover Marathon
Die letzten schweren Meter – 30. HAJ Hannover Marathon

Kein Grund sich zu ärgern

Kurz vor dem Ziel muss meine Familie zurückbleiben, es ist der Augenblick, als ich auf die Zielgerade einbiege. Ich bin vollends im Tunnel, sehe die Zuschauer nur an der Peripherie meiner Wahrnehmung, nicht einmal die Zeitanzeige über dem Zielbogen erfasse ich. „Jubeln“, denke ich und reiße meine Arme in die Luft. Nachdem ich die Ziellinie überquert habe, stoppe ich im Reflex die Uhr und werde von Kai in Empfang genommen. Erst als er mich nach meiner Zeit fragt, schaue ich bewusst auf die gestoppte Zeit: 3:01:47 Std.

Am Ende wird die Zeit netto sogar noch zwei Sekunden besser sein. Das ist verdammt nah an den drei Stunden, die ich hatte unterbieten wollen. Ein Grund, sich zu ärgern? Nein, definitiv nicht. Viel, viel weiter liegt die Zeit unter meiner bisherigen Bestmarke, fast 14 Minuten habe ich mich verbessert und endlich die verdammte 3:15 Std. geknackt, das ist für mich viel mehr wert, als mich das Verfehlen der Drei-Stunden-Grenze wurmen könnte.

Zieleinlauf beim 30. HAJ Hannover Marathon
Zieleinlauf beim 30. HAJ Hannover Marathon

Darüber nachdenken kann ich in diesem Moment freilich nicht, mir ist übel, richtig übel. Kurz bin ich überzeugt, mich direkt im Zielbereich übergeben zu müssen, bekomme es aber in den Griff. Dann sind auch schon meine Frau und die Kinder da. Es ist von einem Kamerateam die Rede, das gleich kommen wird. Ich stehe ein wenig neben mir und alles läuft nebenher. Tatsächlich kommt ein Team vom NDR und dreht ein paar Aufnahmen. Meine Frau und ihr Gefolge sind schon während des Marathons mehrmals gefilmt worden, erfahre ich.

Der Beitrag, der daraus am Ende des Tages entsteht, führt mir später deutlich vor Augen, mit welchem Einsatz meine Frau und vor allem mein jüngster Sohn mich heute unterstützt haben. Es war nicht ihr erster Beitrag, den sie zu dieser Bestzeit geleistet haben. Sie alle haben meine Launen aushalten müssen, auf ihren Papa verzichtet, ihrem Ehemann den Rücken fürs Training freigehalten. So ist diese Bestzeit auch ihr Verdienst und das meiner jüngsten Kinder – ohne die lange Elternzeit, die ich mit meinen Zwillingsmädchen verbringe, hätte ich vermutlich niemals ein solches Trainingspensum absolviert.

Der Lauf im Überblick

Distanz42, 195 km
Zeit3:01:45 Std. / 4:18 min/km
Platzierung243. von 2168 Teilnehmern
AK-Platzierung46. von 218
StreckeDie Strecke ist durchgängig für den Verkehr gesperrt und beschildert. VPs kommen regelmäßig. Die lange Hildesheimer Str. und die Vahrenwalder Str. sind nervtötend, besonders stimmungsvoll hingegen ist es am Aegi, in Teilen der Nordstadt oder in der der List.
Seit meiner letzten Teilnahme ist die zermürbende Strecke durch den Herrenhäuser Garten weggefallen!
BesonderheitenDie Verpflegung im Ziel und an der Strecke ist hervorragend, der Kurs und die Herausforderung an sich sind allein schon etwas Besonderes.

Der Lauf im Vergleich

VeranstaltungDatumZielzeitPaceDifferenz zur Bestzeit
30. HAJ Hannover Marathon03.04.202203:01:454:18/km
20. Gutenberg Marathon Mainz05.05.201903:15:344:38/km00:13:49
20. Piepenbrock Dresden-Marathon21.10.201803:21:104:46/km00:19:25
19. Münster Marathon12.09.202103:22:594:49/km00:21:14
33. Haspa Marathon Hamburg29.04.201803:24:054:50/km00:22:20
25. HAJ Hannover Marathon19.04.201503:27:254:55/km00:25:40
#stayathomemarathon26.04.202003:28:164:56/km00:26:31
7. VIVAWEST-Marathon19.05.201903:29:014:57/km00:27:16
9. Schloss Marienburg Marathon19.11.202203:29:454:56/km00:28:00
1. Kolshorner Trail Marathon10.04.202103:33:245:03/km00:31:39
44. Harz-Gebirgslauf08.10.202203:47:095:23/km00:45:24
17. Spielbanken Marathon Hannover06.05.200703:48:315:25/km00:46:46
7. Braunschweig - Wolfenbüttel Marathon14.10.200703:52:255:30/km00:50:40
23. RheinEnergie Marathon Köln13.10.201903:52:405:31/km00:50:55

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