Bam! Bam! Bam! Jemand donnert gegen eine der Türen auf dem Flur des Hotels, in dem ich die Nacht vor dem 9. Fishermanstrail verbringe. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt bin ich vor einer guten Stunde in Malchow angekommen, habe hervorragend gegessen und liege auf dem Bett. Für den morgigen Wettkampf habe ich alles vorbereitet und es gibt nichts mehr, was ich tun könnte, außer ausruhen. Es war ein langer Tag und die Fahrt hat mich ermüdet. Kurz vor 19 Uhr hatte ich meine Startnummer beim „Fisherman“ in der Alten Fischerei in Alt Schwerin abgeholt. Dort wird morgen der 9. Fishermanstrail starten und enden, ein Ultralauf über rund 56 km um den Plauer See.

Das wuchtige Klopfen an die Tür – ich vermute, es ist einer der anderen Läufer, die hier übernachten – hat den Lärm dahinter zum Verstummen gebracht. Wenigstens das! Ich hatte mich auf den Luxus einer ungestörten Nacht gefreut. Das ist mit 10 Monate alten Zwillingen seltener gegeben, als mir das lieb ist. Je länger ich auf dem Bett liege und mir noch einmal das Briefing mit den Schlüsselstellen ansehe, bevor ich zu einer seichten Dokumentation im Fernsehen übergehe, dämmert mir, dass es mit der ruhigen Nacht nichts werden wird. Mein Zimmer geht zur Straße raus, Kopfsteinpflaster davor. In unregelmäßigen Abständen rattern PKW vorbei. Nachts werde ich immer wieder deswegen geweckt.

Die Nacht hätte besser sein können. Einen Teil davon habe ich auf dem Sofa verbracht und weniger Schlaf bekommen, als ich mir das gewünscht hätte. Mich aus der Decke zu schälen, kostet mich große Überwindung. Lahm bereite ich mein spärliches Frühstück zu. Joghurt mit einigen Früchten. Seit gestern spinnt mein Magen, ständiger Druck erzeugt Unwohlsein. Meine Sachen liegen bereit, das erleichtert die Vorbereitung. Trotzdem gehe ich nicht mit dem Elan von der Vorwoche ans Werk, nur widerwillig und bin gar nicht sicher, ob ich überhaupt laufen will. Nein, ich bin fast bereit, mich wieder aufs Sofa zu pflanzen und gar nichts zu tun, bis ich mich innerlich aufraffe, zu meiner Frau sage, dass ich gar nicht mehr loslaufe, wenn nicht jetzt.

Der Lauf beginnt für mich mit einem „Klong“. Ich war unvorsichtig, habe die Kirche in Bad Nenndorf fotografiert und bin dabei weitergelaufen. So mache ich das oft. Diesmal knutsche ich dabei einen Laternenpfahl, kann aber im letzten Moment noch den Arm hochreißen und meine Schulter zum Schutz nach vorne drehen. Es wird so kein frontaler Zusammenstoß, ich streife den Pfosten eher. Hoffentlich hat das keiner gesehen. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist, den ersten Kilometer meines Laufs habe ich noch gar nicht hinter mir!

Der Stream des Hörbuchs bricht bereits nach einem Kilometer ab. Zunächst denke ich mir nichts dabei, der Empfang wird wohl schlecht sein. Als der Stream auch nach drei Kilometern nicht wieder einsetzt, macht mich das skeptisch. Im Laufen versuche ich das Hörbuch wieder zu starten, mehrmals. Das Ergebnis bleibt immer gleich. Es besteht keine Verbindung zum Internet. Wie kann das sein? Die SIM-Karte ist seit heute nicht mehr gültig, fällt es mir ein. So ein verdammter Mist. Die Gedanken, die mir durch den Kopf sausen, überschlagen sich. Soll ich umkehren, um die Karte mit der neuen zu tauschen? Nein, das bedeutete sechs Kilometer zusätzlich und würde meinen Lauf kaputt machen, bevor ich richtig gestartet bin.

2021 trudelt langsam aus – Zeit auf ein für mich bewegtes Laufjahr zurückzuschauen. Ein Jahr, in dem ich mich nach einer längeren Phase des „Auf-der-Stelle-Tretens“ endlich wieder verbessern konnte, erstmals die Furcht vor dem Marathon ablegen konnte und die ultralangen Distanzen für mich entdeckte. Endlich habe ich das Gefühl, dass mein Training Früchte trägt und ich auf einem neuen Niveau angekommen bin. Und sei es nur die Fähigkeit, längere Strecken ohne Pause zu laufen.

Seit meiner Ankunft in Lissabon sind gerade erst 48 Stunden vergangen, doch liegt sie gedanklich schon eine halbe Ewigkeit zurück. Die Vielzahl der Eindrücke, die ich in dieser kurzen Zeitspanne aufgenommen habe, scheinen nicht in die zwei Tage zu passen, sie sind noch nicht verarbeitet und mir schwirrt noch immer der Kopf. Zwei Tage an denen nicht allein die Teilnahme an einem der schnellsten und bedeutendsten Halbmarathons der Welt stand, sondern nach langer Durstrecke zwei neue Bestzeiten und vor allem so vielfältig schöne Eindrücke, dass ich endgültig verliebt bin in die Stadt am Rio Tejo, der westlichsten Hauptstadt Europas.

Für einen Moment steigen mir Tränen in die Augen, als ich mich im Ziel an die Absperrung lehne. Ich bin völlig im Eimer und die Emotionen überrennen mich, ein Cocktail unterschiedlicher Gefühle. Gleichzeitig bin ich stolz, enttäuscht, erschöpft und erleichtert. Bevor ich alles sortieren kann, spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und mir wird ein Becher Cola in die Hand gedrückt. Toni hat im Ziel auf mich gewartet und unterbricht mein Gedankenkarussell. Fest steht für mich in diesem Moment nur: Ich habe mein gestecktes Ziel zwar erneut recht deutlich verfehlt, lange kämpfen müssen, aber einen unheimlich tollen Lauf mit einem fantastischen Publikum erlebt.

Der 5. Schweriner Seentrail war für mich der erste richtige Wettkampf seit mehr als eineinhalb Jahren. Und zugleich mein erster offizieller Ultralauf überhaupt. Mit 61 km war die Distanz ganze zehn Kilometer länger als die weiteste Distanz, die ich zuvor jemals gelaufen bin. Sonne und eine überraschend anspruchsvolle Strecke um den Schweriner See – wer hätte gedacht, dass man an den Ufern eines Sees so viele Ansteige zu bewältigen hat? -verlangten mir gerade auf den letzten 15 km alles ab, bis ich nach 6:36 Std. abgekämpft aber glücklich im Ziel ankam und von einem Gefühlschaos übermannt wurde.

Hinten ist die Ente fett. 35 km habe ich gerade hinter mir und ich spüre, dass nichts mehr geht. Ab jetzt beginnt das, was ich schon so oft erlebt habe, wenn ich gegen die Wand gelaufen bin. Ich setzte mich auf eine Bank im Schatten, trinke und nehme ein Gel zu mir. Es ist viel heißer als es lt. Wettervorhersage hätte sein sollen, die Wolken, die gerade ein wenig von der Wucht der Sonne nehmen, sind erst vor wenigen Minuten aufgezogen. Zu spät für mich, ich bin bereits geröstet. Im buchstäblichen Sinn, wie meine Hautfarbe mir später verraten wird, und im übertragenen Sinn. Ich bin richtig schön geplatzt.