Derzeit entscheide ich Vieles relativ spontan. Nicht, weil das so sehr meinem Naturell entspräche und ich spontane Entscheidungen liebe. Es ist vielmehr den Umständen geschuldet. Mit den Zwillingen und den vier größeren Monstern zuhause, erübrigt sich oft jede langfristige Planung oder es bleibt schlicht keine Zeit dafür. Selbst für wichtige Themen bleibt nicht immer die Zeit, die sie bräuchten. Da stehen spinnerte Ideen für irgendwelche Läufe nicht besonders weit oben auf der Agenda. Zumindest nicht bei allen in der Familie…

Meine Beine führen ein Eigenleben, die Muskeln im linken Bein zucken von der Achillessehne bis zum Knie unkontrolliert ohne mein Zutun. Hier unter dem Zelt am Verpflegungspunkt Nr. 3 mit einem alkoholfreien Bier in der Hand ist für mich Schluss. Der Lauf war heute härter als ich und es spricht nichts dafür, für die letzten 19 km noch einmal auf die Strecke zu gehen. So weit ist es noch bis zum Ziel. Klar, ich könnte die Restdistanz gehen und wäre ganz locker im Zeitlimit. Aber wofür? Es ist ein Wettlauf und kein Megamarsch. Schon die letzten 15 km bin ich mehr gegangen als mir lieb ist. Getrieben nur von der Aussicht, bei Kilometer 60 mit Wertung und Medaille aussteigen zu können und ein DNF (did not finish) zu vermeiden.

Der Tag hätte nicht schlechter losgehen können: Erst musste ich feststellen, dass meine Uhr nicht geladen hatte, weil die Ladeklemme über Nacht nicht richtig saß, dann, dass ich auf den falschen Zug gesetzt hatte. Ich war extra früh aufgestanden, um mit dem Zug um kurz vor sechs Uhr morgens nach Hannover zu fahren, habe soeben einen kurzen Sprint eingelegt, weil ich vermeintlich spät dran bin und bemerke nun, dass der Zug samstags überhaupt nicht fährt. Kaffee bekomme ich so früh hier im Ort auch nicht. Brillant!

So weit bin ich noch nie gelaufen. 62 km liegen hinter mir, als ich am Bahnhof in Barsinghausen meinen Lauf beende. Die letzten Kilometer taten weh und ich bin wirklich froh, nicht mehr laufen zu müssen. Andererseits hätte ich noch rund 10 km vor mir, um mein Vorhaben, den Deister zu umrunden, umzusetzen. Verlockend, weil ich den Rest auch noch irgendwie hätte bewältigen können. Nur wofür? Um einen Haken an das Vorhaben zu machen, für die eigene Genugtuung und auf die Gefahr hin, den Bogen vielleicht zu überspannen? Nein, es war kein Wettkampftag und ich musste mir nichts beweisen. Für heute war es genug.

Hamburg, Dresden, Mainz, Köln und Münster dazu die „stay-at-home“-Version des Hannover Marathons und einige Wald-und-Wiesen-Läufe. Fünf Jahre habe ich mich daran versucht, den Marathon unter drei Stunden und fünfzehn Minuten zu laufen. Fünf Jahre, in denen ich mich ans Scheitern gewöhnt und beinahe damit abgefunden hatte, dieses Ziel nicht mehr zu erreichen – bis ich in Elternzeit ging.

Bam! Bam! Bam! Jemand donnert gegen eine der Türen auf dem Flur des Hotels, in dem ich die Nacht vor dem 9. Fishermanstrail verbringe. Nach dreieinhalb Stunden Fahrt bin ich vor einer guten Stunde in Malchow angekommen, habe hervorragend gegessen und liege auf dem Bett. Für den morgigen Wettkampf habe ich alles vorbereitet und es gibt nichts mehr, was ich tun könnte, außer ausruhen. Es war ein langer Tag und die Fahrt hat mich ermüdet. Kurz vor 19 Uhr hatte ich meine Startnummer beim „Fisherman“ in der Alten Fischerei in Alt Schwerin abgeholt. Dort wird morgen der 9. Fishermanstrail starten und enden, ein Ultralauf über rund 56 km um den Plauer See.

Das wuchtige Klopfen an die Tür – ich vermute, es ist einer der anderen Läufer, die hier übernachten – hat den Lärm dahinter zum Verstummen gebracht. Wenigstens das! Ich hatte mich auf den Luxus einer ungestörten Nacht gefreut. Das ist mit 10 Monate alten Zwillingen seltener gegeben, als mir das lieb ist. Je länger ich auf dem Bett liege und mir noch einmal das Briefing mit den Schlüsselstellen ansehe, bevor ich zu einer seichten Dokumentation im Fernsehen übergehe, dämmert mir, dass es mit der ruhigen Nacht nichts werden wird. Mein Zimmer geht zur Straße raus, Kopfsteinpflaster davor. In unregelmäßigen Abständen rattern PKW vorbei. Nachts werde ich immer wieder deswegen geweckt.