Mein Weg führt mich nach Freden an der Leine. Es soll der erste Versuch eines langen Laufs, seit meiner COVID-Erkrankung im Juni werden. Der Einstieg nach dreieinhalb Wochen ohne jede sportliche Aktivität war schmerzhaft und hat mir nur allzu deutlich vor Augen geführt, dass in den drei Wochen einiges an Form auf der Strecke geblieben ist. Nach den ersten 15-km-Läufen musste ich die Treppen herab stolpern wie nach einem Marathon. Wie schnell meine Form flöten gegangen war, war für mich hart zu akzeptieren. Die Auswirkungen der Krankheit hatten den sonst schon schnell voranschreitenden Formverlust sicherlich beschleunigt und die Hitze machte den Wiedereinstieg obendrein schwer. Legt man die Faustregel zugrunde, nach der man die doppelte Zeit der Pause benötigt, um sich wieder auf ein ähnliches Leistungsniveau zu hieven wie vor dem Ausfall, würde ich immer noch rund einen Monat benötigen, um meine Leistungsfähigkeit wieder zu erlangen. Und die war da schon nicht mehr optimal.

Derzeit entscheide ich Vieles relativ spontan. Nicht, weil das so sehr meinem Naturell entspräche und ich spontane Entscheidungen liebe. Es ist vielmehr den Umständen geschuldet. Mit den Zwillingen und den vier größeren Monstern zuhause, erübrigt sich oft jede langfristige Planung oder es bleibt schlicht keine Zeit dafür. Selbst für wichtige Themen bleibt nicht immer die Zeit, die sie bräuchten. Da stehen spinnerte Ideen für irgendwelche Läufe nicht besonders weit oben auf der Agenda. Zumindest nicht bei allen in der Familie…

Meine Beine führen ein Eigenleben, die Muskeln im linken Bein zucken von der Achillessehne bis zum Knie unkontrolliert ohne mein Zutun. Hier unter dem Zelt am Verpflegungspunkt Nr. 3 mit einem alkoholfreien Bier in der Hand ist für mich Schluss. Der Lauf war heute härter als ich und es spricht nichts dafür, für die letzten 19 km noch einmal auf die Strecke zu gehen. So weit ist es noch bis zum Ziel. Klar, ich könnte die Restdistanz gehen und wäre ganz locker im Zeitlimit. Aber wofür? Es ist ein Wettlauf und kein Megamarsch. Schon die letzten 15 km bin ich mehr gegangen als mir lieb ist. Getrieben nur von der Aussicht, bei Kilometer 60 mit Wertung und Medaille aussteigen zu können und ein DNF (did not finish) zu vermeiden.

Der Tag hätte nicht schlechter losgehen können: Erst musste ich feststellen, dass meine Uhr nicht geladen hatte, weil die Ladeklemme über Nacht nicht richtig saß, dann, dass ich auf den falschen Zug gesetzt hatte. Ich war extra früh aufgestanden, um mit dem Zug um kurz vor sechs Uhr morgens nach Hannover zu fahren, habe soeben einen kurzen Sprint eingelegt, weil ich vermeintlich spät dran bin und bemerke nun, dass der Zug samstags überhaupt nicht fährt. Kaffee bekomme ich so früh hier im Ort auch nicht. Brillant!

So weit bin ich noch nie gelaufen. 62 km liegen hinter mir, als ich am Bahnhof in Barsinghausen meinen Lauf beende. Die letzten Kilometer taten weh und ich bin wirklich froh, nicht mehr laufen zu müssen. Andererseits hätte ich noch rund 10 km vor mir, um mein Vorhaben, den Deister zu umrunden, umzusetzen. Verlockend, weil ich den Rest auch noch irgendwie hätte bewältigen können. Nur wofür? Um einen Haken an das Vorhaben zu machen, für die eigene Genugtuung und auf die Gefahr hin, den Bogen vielleicht zu überspannen? Nein, es war kein Wettkampftag und ich musste mir nichts beweisen. Für heute war es genug.

Hamburg, Dresden, Mainz, Köln und Münster dazu die „stay-at-home“-Version des Hannover Marathons und einige Wald-und-Wiesen-Läufe. Fünf Jahre habe ich mich daran versucht, den Marathon unter drei Stunden und fünfzehn Minuten zu laufen. Fünf Jahre, in denen ich mich ans Scheitern gewöhnt und beinahe damit abgefunden hatte, dieses Ziel nicht mehr zu erreichen – bis ich in Elternzeit ging.