Lauftagebuch

60 € Startgebühr für 55 km Training – Von Hannover zur Marienburg bis Hildesheim

Der Tag hätte nicht schlechter losgehen können: Erst musste ich feststellen, dass meine Uhr nicht geladen hatte, weil die Ladeklemme über Nacht nicht richtig saß, dann, dass ich auf den falschen Zug gesetzt hatte. Ich war extra früh aufgestanden, um mit dem Zug um kurz vor sechs Uhr morgens nach Hannover zu fahren, habe soeben einen kurzen Sprint eingelegt, weil ich vermeintlich spät dran bin und bemerke nun, dass der Zug samstags überhaupt nicht fährt. Kaffee bekomme ich so früh hier im Ort auch nicht. Brillant!

Und es wird sogar noch besser: In der halbstündigen Wartezeit auf den Folgezug vergesse ich, meine Fahrkarte abzustempeln und bemerke den Fehler erst bei der Fahrkartenkontrolle. Folge: 60 € „erhöhtes Beförderungsgeld“. Da hilft es auch nicht, dass der Automat einen Zeitstempel auf die Fahrkarte gedruckt hat. Das ist dann ganz sicher das Gegenteil von einem gelungenen Start in den Tag.

Start "unterm Schwanz" - wie man in Hannover sagt
Start „unterm Schwanz“ – wie man in Hannover sagt

Davon nicht runterziehen lassen und auf den Lauf konzentrieren, denke ich mir. Den Spaß an meinem Ausflug will ich mir nicht verderben lassen. Auf dem Zettel habe ich die Route, die ich mir vorgenommen habe, schon länger. Die Umsetzung indes habe ich erst gestern Abend beschlossen, von Planung kann da nur schwerlich die Rede sein. Die Strecke soll mich vom Hauptbahnhof in Hannover zunächst an den Maschsee führen und von dort südlich entlang der Leine zur Marienburg und schließlich nach Hildesheim. Summa summarum 52 km und was eben noch so hinzukommt. Es soll der letzte lange Trainingslauf vor dem Ultramarathon auf dem Grünen Ring werden. Und weil in Hildesheim heute ein Streetfood-Festival stattfindet, drängte sich diese Route geradezu auf. Dann hat auch die Familie was davon, wenn sie mich in Hildesheim aufgabelt und ich eine zusätzliche Motivation. Ich esse gerne und da trifft es sich doch ganz gut, dass ich auch gerne laufe.

Der Fackelläufer am Maschsee
Der Fackelläufer am Nordufer des Maschsees

Apropos Motivation: So richtig rund läuft es anfangs nicht. Nicht wirklich schleppend, aber rund fühlt sich meine Bewegung nicht an. Ich habe Schmerzen in meinen Muskeln, das spüre ich sehr deutlich. Zwei Tage zuvor war ich ungeplant etwas mehr als 30 km gelaufen und schon ohne diesen Lauf heute habe ich über 80 Wochenkilometer geschrubbt. Wenigstens fühle ich mich ausgeschlafen und erholt. Meine Babys haben lieb und artig die ganze Nacht in ihren Betten geschlafen und mir eine ruhige Nacht beschert. Nach zwei Kilometern bin ich schon am Maschsee, an dessen Ostufer ich entlang laufe. Bei schönem Wetter ist das einer der Hotspots für Läufer in Hannover, aber jetzt ist noch nicht viel los. Gerade mal eine Handvoll Gleichgesinnter kommt mir auf den rund zweieinhalb Kilometern Uferlinie entgegen.

Südlich des Maschsees komme ich nach einem kurzen Wegstück in den Bereich der Leinemasch, ausgedehnte Wiesen und Feuchtgebiete entlang der Alten Leine. Der leichte Nieselregen tut der Schönheit der reizvollen Natur keinen Abbruch, er unterstützt sie sogar noch. Ich mag dieses stetige Tropfen und weil die Außentemperatur nicht allzu niedrig ist, ist es auch nicht zu kühl. Das alles sollte mich beflügeln, doch noch immer läuft es nicht rund. Subjektiv ist es mühsamer für mich die Pace zu halten, als es eigentlich der Fall sein sollte. Ich habe permanent das Gefühl, dass die Uhr zehn Sekunden pro Kilometer draufschlägt, was natürlich Blödsinn ist. Im Wald kann das schon mal vorkommen, gleicht sich aber auf Strecke aus.

Teils laufe ich auf der Strecke des Ultramarathons, der in zwei Wochen auf mich wartet und weil es eben nicht so flüssig läuft, macht mir das ein wenig Kopfzerbrechen. Andererseits ist es bei mir häufig so, dass ich etwas brauche, um so richtig mit einem Lauf warm zu werden. Das scheint heue definitiv so zu sein. Nach elf Kilometern stoppe ich unter einer Brücke für eine Pinkelpause und um mir meine Jacke auszuziehen. Mir ist jetzt doch warm geworden, Regen hin oder her. Die ersten Schritte nach der Pause setze ich beschwingt, falle dann aber wieder in den Trott von zuvor. Nach 13 km passiere ich eine Art zerfallenen Turm. Ich bin hier früher schon vorbeigekommen und frage mich, was es damit auf sich hat und wie alt das Relikt ist. Auf der Suche nach einer Infotafel bemerke ich nicht, dass ich vor dem Turm links hätte abbiegen müssen. Das kostet mich vielleicht zweihundert Meter. Hundert, bis ich meinen Fehler bemerke und weitere hundert für, die ich zurücklaufen muss. Ich war mir sicher, dass ich richtig war und der Wegweiser schien mir auch recht zu geben. Nordstemmen – da muss ich hin. Zumindest früher oder später. Aber vermutlich führen nicht nur Tausend Wege nach Rom, sondern auch verschiedene Wege nach Nordstemmen und zur Marienburg. Es gibt keinen Grund, meiner Uhr zu misstrauen. Es ist zwar nicht immer einfach, der kleinen Linie auf dem Display zu folgen, aber eine einmal geplante Route gibt sie immer korrekt wieder.

Einen Kilometer später verpasse ich wieder eine Wegbiegung, merke das aber beinahe sofort. Ich bin am Bahnhof in Rethen. Die Route ist so angelegt, dass sie zunächst ausschließlich fast direkt nach Süden führt, dann südwestlich zur Marienburg und zuletzt in direkt östlich nach Hildesheim. Mein Rechtsdrang rührt daher, dass ich mich schon jetzt südwestlich orientieren will und war daher der Rechtsbiegung der Straße gefolgt, anstatt längs der Bahnlinie zu laufen. Grob einen Kilometer verläuft der Radweg an der Bahnlinie Hannover-Hildesheim, teilweise auf der anderen Seite flankiert von Gewerbe. Nicht schön! Aber so ein Kilometer dauert eben auch nur etwas mehr als fünfeinhalb Minuten, dann wird es wesentlich besser. Die Koldinger Seen sind durch den Abbau von Kiessanden entstanden und heute Naherholungsgebiet. Es geht hin und her zwischen den Seen hindurch und ich scheine vollends die Orientierung zu verlieren. Anstatt endlich nach rechts abzubiegen, führt mich die Uhr nach links. Bin ich so desorientiert? Der Wegweiser bestätigt die Uhr. Der nächste Ort ist Ruthe. Das sagt mir was, da bin ich schon einmal durchgekommen, als ich auf einer anderen Route zur Marienburg lief. Alles in bester Ordnung also.

Kurz vor dem Ortseingang sehe ich ein Schild, das auf die Innerstemündung hinweist. Klingt nach einem schönen Ziel, schießt es mir durch den Kopf. Mündung und Quelle verwechselnd, denke ich an den Harz, als ich darüber nachdenke, wohin der Weg führen könnte. So ganz beisammen habe ich sie heute nicht alle. Tatsächlich mündet die Innerste, die aus Südost kommt, einige hundert Meter weiter in die aus Süden kommende Leine, die Quelle ist hingegen tatsächlich im Harz. Vielleicht bin ich selbst nach zwei Stunden des Laufens noch nicht richtig wach. Ich rechne fest damit, dass ich mich in Ruthe nach nun rechts wenden muss, weil das dem Weg entspricht, den ich damals gelaufen bin. Wieder Erwarten muss ich in die entgegengesetzte Richtung nach Sarstedt. Die Route und ich werden heute keine Freunde mehr. Woher stammt die eigentlich, frage ich mich mehr als einmal. Noch ehe ich den Ort erreiche, biege ich rechts ein – na bitte! – und laufe wieder entlang einer Bahnstrecke, erst rechts davon, dann links, dann wieder rechts. Es ist Zeit für mein erstes Gel. Inzwischen plagt mich schon ein Hungergefühl und deswegen nehme ich ganz bewusst das Honiggel von Aerobee zu mir. Placeboeffekt oder nicht, ich fühle einen richtigen Kick, das tut richtig gut. Alter, das tut gut und schiebt mich an.

Entlang der Bahnstrecke befindet sich eine weitere Ansammlung von Seen und Teichen, die Wege dazwischen führen teilweise über schmale Pfade, die geschätzt zwei Meter breit sind. Die Strecke ist weiterhin abwechslungsreich und ansprechend, was nichts an meinem Gefühl ändert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, heute über 50 km zu laufen. Zeit und Distanz vergehen langsam, mein Kopf macht nicht gut mit. Auf einer Brücke über die Leine halte ich an. Nicht, weil ich den Lauf beenden möchte, nur für ein Foto, weil der Raps so herrlich gelb ins Auge sticht und ich ganz weit in der Ferne die Marienburg ausmachen kann. Das motiviert. Ich fische meine Jacke wieder aus dem Rucksack, es ist durch den Regen kalt geworden an den Armen.

Raps und dahinter das Schloss Marienburg
Reichlich Raps und dahinter – ganz klein – das Schloss Marienburg

Hinter Jeinsen erkenne ich den Radweg wieder, auf dem ich ich befinde. Er führt nach Schulenburg (Leine) und ich bin ihn vor knapp eineinhalb Jahren bereits gelaufen, als ich meinen ersten Ultralauf machte. Ziel damals: Schloss Marienburg. So langsam meine ich mich dem Welfenschloss zu nähern, muss aber noch eine Schleife drehen, die mich zunächst auf den Schulenburger Berg führt, dann auf Adenser Berg und schließlich zum Marienberg. Die Kletterei löst einen Knoten in mir. Ich finde es richtig geil: Die Landschaft, den Raps, den Wald – ich bin plötzlich drin im Lauf, auch wenn mein Puls wegen der Steigungen steil ansteigt. Wer weiß, vielleicht brauchte ich das. Es geht hoch und runter und dann mitten durch einen Buchenwald. Mann, das macht Bock. Wieder unten angekommen überquere ich auf der Marienbrücke einmal mehr die Leine, hinter mir ragt auf dem Marienberg das Schloss auf. Es ist der Anblick, auf den ich mich schon vor dem Loslaufen gefreut habe.

Auf der Leinebrücke vor dem Schloss Marienburg
Auf der Leinebrücke vor dem Schloss Marienburg

Ein paar Fotos später setze ich meinen Lauf fort und als ich in Nordstemmen 37 km hinter mir habe, ist es auf meiner Uhr vorbei mit der Zug-um-Zug-Navigation. Der letzte der zulässigen 50 Marker ist erreicht und von jetzt an wird mir neben der Restdistanz die Route nur mehr als grüner Pfad auf der Uhr angezeigt. Das macht die Orientierung an Stellen, wo zwei Straßen ungefähr in die gleiche Richtung gehen, etwas schwerer. Und prompt folgt genau so eine Kreuzung. Nach kurzem Zögern entscheide ich mich für den rechten und damit richtigen Weg und finde mich zwischen Rapsfeldern auf einer allmählich ansteigenden Straße wieder. Ich nehme mir vor, auf dem Scheitelpunkt der Anhöhe ein weiteres Gel – das dritte – zu mir zu nehmen, bis zum Ziel ist es immerhin noch über eine Stunde.

Über Heyersum und Klein Escherde gelange ich nach Emmerke, wo mich meine Verdauung zu einer kurzen Pause zwingt. Ich habe das dringende Bedürfnis, mich ungesehen in die Büsche zu schlagen. Das ist bleibt aber ein frommer Wunsch, wenn ich nicht jemanden den Vorgarten versauen oder den Unwillen der Anwohner auf ich ziehen will. Kurz drauf laufe ich wie so oft heute wieder an Bahngleisen entlang, das drückende Gefühl ist von alleine verschwunden. Das geht so, bis ich Hildesheim bin. Durch den Stadtteil Himmelsthür gelange ich ans Ufer der Innerste. Diesen Abschnitt kenne ich schon und weiß auch, dass der Weg entlang des Flusses gleich gesperrt sein wird. So gut es geht, laufe ich parallel zur auf der Uhr gespeicherten Route, bis ich mich wieder auf ihr befinde. Erst noch kommt mir bekannt vor, wo ich entlanglaufe. Die Wallanlagen mit dem großen Graben kommen mir zwar nicht direkt bekannt vor, aber da ich anschließend an einer Kirche vorbeikomme, die ich wiederzukennen meine, scheine ich mich noch immer in der Nähe des Zentrums zu befinden. Doch bei der Kirche handelt es sich nicht um die Rückansicht von St. Michaelis, sondern um St. Godehard, stelle ich später fest. Hildesheim hat halt viele Kirchen…

St. Godehard
St. Godehard
Im Fachwerkviertel von Hildesheim
Im Fachwerkviertel von Hildesheim

Wegen meines Irrtums sammle ich noch einige Kilometer zusätzlich. Ich laufe zunächst durchs Fachwerkviertel, was erklärt, warum hier so viele schöne Fachwerkhäuser stehen. Auch hier denke ich mir noch nichts dabei. Erst als ich mich einem Bahnhof nähere, dämmert mir, dass die Route möglicherweise genau dort enden soll. Nicht, wie von mir gedacht, an einer der Sehenswürdigkeiten in der Innenstadt. Wie geschrieben, war die Zeit für die Planung eher kurz. Aber nun ist es auch egal, denn klar ist, dass ich in die Innenstadt möchte. Dort gibt es das Essen, dort kommt meine Familie hin. 53 km habe ich schon und es ist nicht so, dass ich nicht ganz gerne langsam zum Ende kommen würde. Doch den Rest mache ich auch, meine Beine sind noch immer brauchbar.

Nach 55 km ist dann aber wirklich Schluss. Etwas mehr als fünf Stunden Laufzeit habe ich hinter mir und da ich direkt in der Fußgängerzone stehe, gibt es keinen Grund mehr weiterzulaufen. Es riecht bereits nach Essen und stelle fest: Ich habe gehörigen Kohldampf. Viel größer ist aber mein Durst. Etwa 750 ml habe ich getrunken, was bei kälteren Temperaturen bei solchen Distanzen bisher gereicht hat. Heute aber machen sich die gestiegenen Temperaturen bemerkbar und ich träume von einem alkoholfreien Bier. Oder zwei. Die 60 €-Strafe muss sich ja schließlich auch lohnen.

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