Wettkampfberichte

57 km Ultralaufen vom Feinsten – 10. Fishermanstrail

Schneeregen vor dem 10. Fishermanstrail
Schneeregen vor dem 10. Fishermanstrail

Schneeregen peitscht ans Fenster, als ich die Vorhänge im Hotel zur Seite schiebe. Meine Lust am Laufen nimmt rapide ab. Dahinter steckt zum Teil auch der Wunsch, der jedes mal in mir hochkommt, wenn ein harter Lauf bevorsteht. Ich möchte dem Wettkampf mit mir selbst entrinnen, mich nicht der Herausforderung stellen müssen. Zumindest ein Teil von mir, der böse Engel auf der Schulter sozusagen. Gut, dass es noch einen anderen Teil von mir gibt, der dagegenhält. Kneifen gilt nicht. Dreieinhalb Stunden bin ich gestern mit dem Auto nach Alt Schwerin gefahren, um an der Jubiläumsauflage des Fishermanstrail teilzunehmen. Allein der Aufwand der Anreise und die Nacht im Hotel würden einen Verzicht auf den Start ad absurdum führen. Wie sollte ich das vor mir selbst rechtfertigen? Oder vor meiner Familie?

Stoisch ziehe ich mir mein Porridge rein, während ich noch ein bisschen im Bett sitze und eine Dokumentation über Wikinger in Nordamerika schaue. Ich chille. Für das Hotelfrühstück ist es noch zu früh, das beginnt erst um 7:30 Uhr, eine Viertelstunde vor dem offiziellen Fototermin des Fishermanstrail. Das Hotel hatte mir dankenswerterweise eine Lunchbox vorbereiten wollen, jetzt habe ich mich aber doch für das Porridge entschieden. Alternativ hätte ich auch das gemeinsame Frühstück im Restaurant direkt beim „Fisherman“ wahrnehmen können. Dort fand gestern bereits die Pasta-Party inkl. Läufer-Smalltalk und Briefing statt. Letzteres hätte ich nicht zwingend gebraucht. Als Wiederholungstäter waren mir die Schlüsselstellen präsent und ich war eigentlich auch im letzten Jahr gut durchgekommen, bis ich mich kurz vor dem Ziel doch noch verlief. Das würde mir heute nicht passieren. Interessanter waren dafür die Gespräche mit den anderen Teilnehmern.

Je länger ich im Bett liege, desto gemütlicher ist es. Ich sollte zusehen, dass ich mich fertig mache, damit nicht doch noch die schlechten Einflüsterungen die Oberhand gewinnen. Sie sind auch deswegen so stark, weil ich letztes Jahr ohne wenn und aber hier meinen besten Ultramarathon lief und ich einfach nicht glaube, an die Leistung anknüpfen zu können. Damals war ich ohne übertreiben zu wollen in der Form meines Lebens. Davon kann gerade nicht die Rede sein, meine ich zu wissen.

Gegen Zweifel hilft nur eins: Loslaufen

7:45 Uhr – ich bin ich startklar im Restaurant, pünktlich zum Fototermin. Der Schnee regnet draußen waagerecht. So wartet Holger mit dem Foto bis kurz vor 8 Uhr, bloß nicht unnötig in der Kälte stehen. Die Temperatur liegt leicht unter dem Gefrierpunkt. Knips, knips, knips – dann geht es los. Ich ordne mich relativ weit vorne ein, will schnell mein Tempo finden. Auf den gleich folgenden Singletrails ist überholen unmöglich. Die Rechnung geht nicht ganz auf. Der Läufer vor mir, ist mir etwas zu langsam unterwegs, sodass ich die nächstbeste Stelle zum Vorbeiziehen suche.

Ein Haufen Laufverrückter macht sich bereit für den 10. Fishermanstrail
Ein Haufen Laufverrückter macht sich bereit für den 10. Fishermanstrail

Der Trail führt direkt am Ufer des Plauer Sees entlang, so dicht, dass ein Fehltritt an mancher Stelle unweigerlich mit einem unfreiwilligen Eisbad enden würde. Der Fishermanstrail wird uns heute über 57 km einmal um den See herumführen. Durch Jürgenshof führt der Weg kurz durch eine offene Uferlandschaft, bis uns der Wald nach vier Kilometern verschluckt.

Hier entschließe ich mich zum Überholen, positioniere mich an zweiter Stelle. Wollen mal sehen, wie lange das gut geht. Momentan fühlt sich das Tempo gut an und ich entscheide mich dabei zu bleiben. Ich bin schneller unterwegs als letztes Jahr, will mich aber auch nicht bremsen. Natürlich geht es auch um Genuss, aber den Wettkampfmodus habe ich noch nie abschalten können. Es geht mir nicht um eine spezielle Platzierung, ich will mich selbst schlagen. Wenn ich es nicht versuche, bin ich schon gescheitert. Komisch, wie sich meine innere Einstellung von heute Früh nach ein paar Kilometern so radikal geändert hat. Die Zweifel sind noch da, aber so weit zurückgedrängt, dass sie im Augenblick keine Rolle spielen. Ich bin ihnen davongelaufen.

Mit dem See zur Rechten

In Lenz am Fuße der Lenzer Höhe ist der erste Verpflegungspunkt aufgebaut. Ich vermisse die Fotografin, die im Vorjahr auf der Brücke davor platziert war. Schade, gegen ein paar Erinnerungsfotos hätte ich nichts. Zumal ich ja solo unterwegs bin und somit ein erstklassiges Motiv abgebe. Der Mann am Verpflegungsposten sieht mir an, dass ich nicht stehenbleiben werde: „Sie wollen weiter, oder?“ Ich bejahe und nehme die Stufen vor mir in Angriff. Der Führende Läufer hat kurz pausiert und ist jetzt so nah wie er es das ganze Rennen nicht mehr sein wird. Auf den zurückliegenden Kilometern hatte er sich kontinuierlich von mir entfernt und es ist erkennbar, dass seine Pace doch deutlich über dem liegt, was ich mir zutraue.

Kurz bevor wir die Kuppe der Lenzer Höhe erreichen, bekomme ich dann doch noch mein Foto. Die Fotografin hat sich oben postiert und nimmt uns von dort aufs Korn. Wenig überraschend entfernt sich der Führende alsbald wieder von mir und ich unterlasse jeden Versuch an ihm dranzubleiben. Ich muss mir nicht selbst ins Bein schießen, pokere ich doch eh schon hoch genug mit meinem hohen Anfangstempo.

Auf dem Weg zur Lenzer Höhe
Schneeregen begleitet mich auf dem Weg zur Lenzer Höhe

Von hier oben hat der Plauer See etwas von einem Meer. Wind erzeugt eine Brandung, Wellen klatschen am Fuße der Klippen ans Ufer, es braust und rauscht, die perfekte Illusion eines Meeres. Der Fishermanstrail ist nun anspruchsvoller als zuvor, es geht viel auf und ab und es ist Vorsicht geboten, um nicht gegen einen tiefhängenden Ast zu knallen oder über eine Wurzel zu stolpern.

Der Plauer See tobt
Der Plauer See tobt

Der unangenehme Atem der Verfolger

Über das Tosen des Windes nehme ich Schritte hinter mir wahr. Ich bin perplex. Hat sich der Läufer vor mir verlaufen? Ein kurzer Schulterblick zeigt, dass sich eine Läuferin und ein Läufer nähern. Die Läuferin – Lucie – kenne ich noch aus dem letzten Jahr, als ich ein Stück mir ihr gemeinsam gelaufen bin, bis sie mich abhängte. Weil sie sich im späteren Lauf des Rennens allerdings verlief, kam ich unverdient vor ihr ins Ziel. Heute wird ihr das nicht passieren und sie ist schnell unterwegs.

Als Trio biegen wir nach elfeinhalb Kilometer in Richtung Pätschsee ab. Der Abstecher ist notwendig, um einen Campingplatz zu umrunden, der den Weg direkt am Ufer des Plauer Sees versperrt. Und das ist gut so: Unberührt liegt der See im Morgennebel. Wäre nur das Wetter besser, es wäre ein Traum. Stattdessen ist Schneeregen unser Begleiter.

Das Tempo ist allerdings eh so hoch, dass ich die Umgebung nicht immer bewusst wahrnehme. Mein Atem geht schnell und mein Puls ist hoch. Regelmäßig bleibe ich unter 5 min/km. Das ist auf Dauer wahrscheinlich zu schnell, aber es gelingt mir auch nicht so recht Druck rauszunehmen. Wer von einer Autobahn auf eine Landstraße kommt, kennt das Phänomen wahrscheinlich. Das langsamere Tempo fühlt sich an, als wäre man im Schneckentempo unterwegs. Und mit den beiden Verfolgern im Nacken, habe ich auf dem Trail gar keine Chance langsamer zu werden, wenn ich nicht Bremsklotz sein möchte. Der Trail lässt kaum Raum zum Überholen, auch wenn ich immer wieder am äußersten Rand laufe.

Hinterm Pätschsee falle ich absichtlich etwas zurück, lieber verfolgen als verfolgt werden. So geht es für die nächsten rund sieben Kilometer auf dem Uferpfad gen Süden. Links bewaldete Hänge, rechts der See. Nicht, dass es langweilig wäre! Der Weg ist maximal naturnah und abwechslungsreich, der schönste Abschnitt des Fishermanstrail.

Im Tal der Eisvögel

Nach 21 km haben wir das Südufer des Sees erreicht. Ich bin weiterhin mit ungefähr 100 m Abstand zu den vor mir Laufenden unterwegs. Im letzten Jahr hatte ich mich hier verlaufen, weil ich einigen anderen über eine Wiese gefolgt war. Wie sich herausstellte, hatten wir so unabsichtlich einen VP verpasst. Dieses Jahr besteht diese Gefahr nicht. Einerseits bin ich vorgewarnt, andererseits müssen wir ins Tal der Eisvögel. Wegen Sturmschäden war dieser Abschnitt letztes Jahr aus dem Kurs genommen worden.

Durch Bad Stuer komme ich exakt nach 22 km zum Eingang des Tals. Sofort ist erkenntlich, was dem Pfad diesen verheißungsvollen Namen verleiht. Links ist eine Abbruchkante aus Sandstein oder Lehm, rechts fließt ein Bach in Kaskaden durch ein steinernes Flussbett. Man kann sich gut vorstellen, dass das ideales Terrain für Eisvögel ist. Nur zeigt sich keines der seltenen Tiere, schade.

Am Ende des Tales ist VP 2 aufgebaut, ein Helfer registriert unsere Nummern. Während der Führende sich schon wieder auf den Rückweg durch das Tal gemacht hat, verweile ich kurz für ein halbes alkoholfreies Bier. Dann mache auch ich mich auf den Weg, bevor die aufkommende Müdigkeit größer wird. Die Schokoriegel lächeln mich soooo an und bleiben trotzdem liegen. Das Angebot etwas Warmes zu mir nehmen, schlage ich ebenso aus. Zu gemütlich will ich mich nicht einrichten, immerhin sind noch über 30 km zu absolvieren und ich spüre erstmals Erschöpfung.

Warum macht man sowas? Kein Grund notwendig!
Warum macht man sowas? Kein Grund notwendig!

Wo bitte geht’s nach Plau?

Auf dem Weg durch das Tal begegnen mir einige Läufer, die hinter mir liegen. Fünf, möglicherweise sechs. Einer von ihnen nickt mir anerkennend zu: „Stark! Zieh durch!“. Ich muss lächeln, weil wir ja noch früh im Rennen sind. Noch kann ich nicht ahnen, dass ich das Kompliment in einigen Stunden zurückgeben muss. Der ehrgeizige Teil von mir bedauert, dass die „Verfolger“ so dicht sind.

Aber es hat auch Vorteile: Am Ausgang des Tals biege ich rechts ab in die Richtung, aus der wir kamen. Das ist trotz Blick auf die Karte in der Uhr nicht korrekt und ich habe Glück, dass ein nachfolgender Läufer mich und Lucie darüber aufklärt. Sie lässt mich auf nimmer Wiedersehen hinter sich und ich mache alleine weiter. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers.

Zwölfeinhalb Kilometer sind es bis Plau, so steht es auf einem Wegweiser. Letztes Jahr – so meine ich mich zumindest zu erinnern – war ich auf diesem hügeligen Abschnitt noch frisch und locker, die Zeit verflog. Heute spüre ich wie sich die aufkommende Erschöpfung ausbreitet. Willkommen, erstes Tief. Das ist noch viel zu früh, stelle ich fest und beginne zu hadern. Das Kopfkino läuft auf Hochtouren. Das beste Mittel dagegen vollends im Selbstmitleid zu versinken? Weiterlaufen. Noch bin ich nicht komplett zerschossen und vielleicht durchlaufe ich nur eine kurze mentale Delle.

Vielleicht weil ich so viel Nachdenke, verpasse ich an einer Gabelung den richtigen Weg, merke meinen Irrtum aber schnell und laufe querfeldein einen Abhang hinab und durch eine Geländerinne zurück auf den richtigen Kurs. Die Art und Weise wie ich den Abhang nehme, zeigt mir, dass da noch Leben in meinen Beinen steckt. Das fühlte sich ganz und gar nicht nach ermüdeter Muskulatur an!

Bloß nicht zu viel denken

Kurz darauf registriere ich, dass ich schon 27 km geschafft habe. Ich hatte mit weniger gerechnet, aber die Uhr seit ein paar Kilometern nicht mehr kontrolliert. Weiter zu sein als gedacht, das verleiht mir zusätzlich Rückenwind. Mein Tief ist nicht überwunden, aber ich schöpfe neuen Mut und Zuversicht. Es geht jetzt darum, die restliche Strecke klein zu machen und möglichst lange das Tempo zu halten. Erst am Vorabend hatte ich mit einer anderen Läuferin darüber gesprochen, dass man nicht zu häufig über die Restdistanz nachdenken sollte. Das ist ein gefährliches Spiel, da haut man sich schneller raus, als einem lieb ist.

„Herzlich willkommen in Plau am See“, begrüßt mich ein Schild. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Und wieder gehen die Gedanken zurück, als ich hier im letzten Jahr von einem Helfer darauf hingewiesen wurde, dass ich unter den ersten Zehn lag, entzündete das in mir ein Feuer, das bis ins Ziel brannte. Heute liege ich sogar noch besser im Rennen, bin schneller als im Vorjahr, aber niemand ist da, um es mir zu sagen. Ich weiß es ja auch so. Einen Schub gib mir das trotzdem nicht, die Zweifel an meiner eigenen Leistungsfähigkeit sind das Gegengewicht. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, so bis zum Ende durchzuhalten.

Seit ich auf der Westseite des Sees unterwegs bin, hat sich Einiges geändert: Der See ist rechts, der Wind kommt von vorn und gerade im Augenblick kommt sogar die Sonne heraus. In den knapp drei Stunden seit dem Start, ist das heute eine Premiere und nur von kurzer Dauer. Glücklicherweise ist der Wind weniger stark als ich vorher fürchtete. Mit steigender Ermüdung gegen starken Wind anlaufen zu müssen, würde mir den Garaus machen.

Ein kurzer Vergnügen - die Sonne zeigt sich für wenige Minuten
Ein kurzes Vergnügen – die Sonne zeigt sich für wenige Minuten

Soweit die zweite Luft mich trägt

Wie im letzten Jahr staune ich über die herrschaftlich anmutenden Häuser entlang der Seelinie. Beneidenswert, hier ein derartiges Haus zu besitzen. Das weiterhin geschlossene Strandhotel stahlt den Charme eines Lost Places aus, zeugt von besseren Zeiten. Dann habe ich das „echte“ Plau erreicht, bin an der Bundesstraße, die ich gestern mit dem Auto entlanggefahren bin. Weil ich auf den plötzlichen Wandel von Wald, Trail, Kurort hin zu Bundesstraße und Gewerbegebiet vorbereitet bin, kratzt es mich diesmal nicht. Nach der Brücke über die Metow bin ich wieder am Wasser.

Es ist nicht so, dass ich das Tal ganz durchschritten hätte, aber mir geht es besser. Momente der Schwäche habe ich auf dem Weg durch Plau immer wieder, doch sind sie erträglich. Mir scheint es, als hätte ich den Abwärtstrend gestoppt. Es mag daran liegen, dass ich heute eines besser gemacht habe als sonst. Widerwillig hatte ich mich selbst dazu überredet, mir weiter Gels reinzudrücken, anstatt mich in mein Schicksal zu ergeben. Mit zunehmender Ermüdung fällt mir auch das Verpflegen immer schwerer, trotz des Wissens um die Notwenigkeit.

Wäre es deshalb nicht sinnvoll, den dritten VP zu nutzen? Wahrscheinlich schon, aber ich halte mich lieber an die gute Phase, die ich augenblicklich habe und bringe so viele Kilometer hinter mich wie möglich. Der Helfer scheint etwas pikiert, als ich das Verpflegungsangebot ablehne. „Nicht mal eine Pause?“, äußert er sein Unverständnis. Nein, bloß nicht stoppen, solange mich die zweite Luft trägt.

Trügerische Erinnerung

36 km sind vorbei. Gewahr bin ich mir dessen nicht, ignoriere ich doch seit Kilometer 27 die „Ansagen“ der Uhr. Bloß kein zusätzlicher Stress und schön kilometerweise denken und laufen. Fahrradwegweiser sind stattdessen das Maß meines Vorankommens. Langsam arbeite ich die 10 km von Plau nach Karow klein. Zwischenziel: Quetzin. Lebhaft kann ich mich erinnern, dass ich zwischen Plau und Quetzin vor einem Jahr einen Moment der Schwäche ausstehen musste und es motiviert mich umso mehr, dass ich mich jetzt an gleicher Stelle subjektiv besser fühle. Wer hätte das gedacht?

Der Weg in das Neubaugebiet von Quetzin zieht sich länger als in Erinnerung und im kleinen Wäldchen kurz vor der ersten Querung der Bundesstraße muss ich erneut den Impuls niederkämpfen, ins Gehen zu verfallen. Der Augenblick geht vorbei und ich bin auf dem Radweg an der B103. Irritiert folge ich dem Weg für einen einen Kilometer und prüfe den Kurs auf meiner Uhr doppelt und dreifach. So ist es mit Erinnerungen: Ich war sicher, dass direkt nach dem kleinen Wäldchen die Bundesstraße zu überqueren sei. Endlich, nach 41 km wartet der Streckenposten und ich habe Glück, die Straße fast ohne Wartezeit überqueren zu können.

Vor mir – da trügt die Erinnerung nicht – erstreckt sich ein leichter Anstieg, der zunächst einen Kilometer geradeaus führt, dann rechts abzweigt mit zunehmender Steigung zwei Kilometer nach Karow verläuft. Der Untergrund ist obendrein komplett fürn Arsch. Auf meine Marathondurchgangszeit hat das keinen Einfluss, ich bringe die Marke nach weniger als 3:40 Std. hinter mich. Ich staune über mich selbst. Der Streckenverlauf ermöglicht einen weiten Blick zurück. Niemand ist im Anmarsch. Vielleicht erlaube ich mir deswegen ein Stück zu gehen, als es steiler wird. Ich will nicht zu viel Energie verpulvern.

Der Akku leert sich

Die Kilometer vergehen, aber der zurückliegende Abschnitt hat Spuren hinterlassen. Karow erreiche ich – bis auf die kurze Gehpause – laufend. Etwas, was ich mir nach dreißig Kilometern nicht hatte vorstellen können, Wunder über Wunder. Jetzt sind 46 km vorbei und der letzte VP ist erreicht. Wahrscheinlich sollte ich „nachtanken“, doch stehenbleiben birgt weiterhin Gefahren. Ich fürchte nicht mehr loszukommen, wenn ich mich länger verpflege. Deswegen setze ich ohne zu stoppen meinen Weg fort.

Man kann nicht sagen, dass das Streckenstück durch Karow besonders reizvoll ist. Plattenbauten und Verfall charakterisieren es vielleicht am besten, vom Schloss sehe ich nichts. Als ich auf die Karl-Liebknecht-Str. komme, blase ich die Backen auf. Irgendwie will ich dem Passanten auf der anderen Straßenseite signalisieren, dass ich selbst bemerkt habe, ziemlich im Eimer zu sein, obwohl der mich wahrscheinlich nicht einmal richtig registriert. Und sowieso ist meine eigene Erfahrung: Die innere Erschöpfung ist größer als die Äußere.

Vorbei am stillgelegten Bahnhof rette ich mich in den Wald. Ich habe schon 47 km! Heißt im Umkehrschluss: Noch 10! Nur noch 10 km! Verdammte 10 km! Auch das ist eine Distanz, die einen jetzt auffressen kann. Vor allem, weil ich weiß, was kommt. Letztes Jahr waren die sechs Kilometer durch den Forst nördlich vom Plauer See endlos. Hart ist es auch dieses Jahr. Und doch ist etwas anders: Wenn ich mir gegenüber ehrlich bin, dann habe ich nicht ernsthaft daran geglaubt, bis zu diesem Punkt mit meiner Leistung vom letzten Jahr mithalten zu können. Das ist kein Kokettieren oder sich selbst Mut zusprechen. Es ist einfach Fakt! Mich selbst widerlegt zu haben, treibt mich weiter.

Yippie jay! 50 k!

48 km! Kurz nach einer Weggabelung wähne ich mich dann auf dem falschen Weg. So ein Mist! Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich nehme den Weg durch den Wald und muss erkennen, dass ich doch richtig war. Zurück auf dem Weg sehe ich, dass ich nicht mehr alleine bin. Von hinten nähert sich ein Läufer, erstmals seit dem zweiten VP am Ende des Tals der Eisvögel. Da hat jemand noch mehr Körner als ich.

Der unnötige Abstecher ins Unterholz und das Auftauchen eines Läufers hinter mir, zermürben mich und ich lasse meinen Vorsatz fallen, bis 50 km durchzulaufen. Scheiß auf die Möglichkeit, einer inoffiziellen Bestzeit über 50 km! Ich lege den Walking-Gang ein, gönne mir knapp 500 m Pause, gebe dem Jaulen meiner müden Muskeln nach und werde überholt. Es ist Robert, der mich im Tal der Eisvögel mit einem aufmunternden Kommentar bedachte. Auch jetzt ist von Rivalität nichts zu spüren. Mir ist ziemlich egal, dass ich den dritten Platz abgebe, den ich bis hierhin vermutlich innehatte. Nur der Wettkämpfer in mir flucht leise vor sich hin. Mehr Sorgen macht mir der Gedanke, dass das vielleicht nur der Anfang war und ich jetzt reihenweise überholt werde. Das wäre demoralisierend.

Als ich 50 km auf der Uhr habe, sind exakt 4:23 Std. herum und ich setze mich wieder in Bewegung. Ich ermahne mich selbst: „Mach langsam, Karsten.“ Langsam laufen bedeutet weniger Zeitverlust, als gehen zu müssen. Das sollte ich mir einbläuen. Besser noch: Eintätowieren! Und tatsächlich, es geht. Schmerzhaft ist es, da muss ich gar nichts beschönigen. Aber ich bleibe in Bewegung, Mini-Etappe nach Mini-Etappe. Ich breche die verbleibende Distanz auf diesem Wegstück bis zur nächsten Überquerung der Bundesstraße in leichter verdaubare Häppchen.

Endboss besiegt!

Schneegestöber hat eingesetzt. Die Handschuhe im Rucksack sind nicht ohne Weiteres erreichbar, es muss auch so gehen. Der Wald ist nach wenigen Minuten weiß und die Sicht eingeschränkt. Nicht so sehr, dass ich den Läufer vor mir nicht mehr sehen könnte. So weit ist er nicht voraus und da ich weiterlaufe, bleibt der Abstand ungefähr gleich. Auf dem 51. Kilometer wächst der Drang erneut zu gehen fast ins Unermessliche, doch ich laufe weiter. Der 52. Kilometer zieht sich. Tatsächlich habe ich das Signal überhört, so sehr bin ich im Tunnel. Kaum denkbar, schließlich gibt es keine Geräusche hier außer meinem Atem, dem Kratzen meiner Schritte und dem Wind in den Bäumen.

Auch Kilometer 53 endet irgendwann. Ich bin fast raus aus dem Wald, habe meine Nemesis besiegt. Viel besser noch: Ich kann jetzt ernstlich über das Ziel nachdenken. Es sind nurmehr vier Kilometer, runde zwanzig Minuten. Der Streckenposten an der B192 bedeutet mir, ich solle ein wenig warten, aber ich wäre ja auch ganz schön flott unterwegs. Schon im letzten Jahr hatte mich ein Streckenposten mit einem ähnlich schmeichelnden Kommentar auf die letzte Etappe geschickt. Duplizität der Ereignisse.

Wenigstens kann ich mir nicht erlauben, mit dem Weiterlaufen zu zaudern, die nächste Lücke im Verkehr muss genutzt werden. Einmal in Bewegung bleibe ich dabei, Steigung hin oder her. 54 km geschafft! Und noch immer ist die Pace ok. 5:47 min/km, Zwangspause an der Bundesstraße inklusive. Für den folgenden Kilometer brauche ich nur wenig mehr als 5:30 min. Dieses Jahr wähle ich den richtigen Weg, indem ich die Schranken des Campingplatzes ignoriere. So richtig gut gefällt mir der letzte Abschnitt des Rennens nicht, aber das ist auch zweitrangig. Ankommen ist Trumpf! Kilometer 56 bleibt stabil, aber es wird immer mühsamer. Für die gleiche Leistung muss ich immer mehr investieren.

Der lange letzte Kilometer

Nach mehreren Blicken zurück, entscheide ich mich nochmals für eine kleine Gehpause. Hinter mir ist alles frei, deswegen will ich mich nicht bis zum Äußersten schinden. Nach vierhundert Metern geht’s weiter. Die Entfernung zur nächsten Wegmarke vergeht allzu langsam. Danach sollten nur wenige hundert Meter bis zum Ziel bleiben. Dann ist es so weit, der Übergang zwischen Uferweg und der Insel Werder ist erreicht, die letzte Wegmarke vor dem Ziel. Ich beäuge die Uhr skeptisch. Innerlich bin ich gewappnet, gehe von 600 Metern bis zum Ziel aus. Doch nicht mal die Hälfte muss ich noch durchhalten.

In der Ferne sehe ich einen Bus vor dem Restaurant parken. Kein Fan-Bus, es sind mutmaßlich Touristen. Fast unbemerkt nähere ich mich dem Ziel, dann entdeckt mich die Fotografin. Ich recke etwas verhalten meine Arme in die Luft, was zu Heiterkeit führt, dann ist es geschafft. Ich bin Finisher des 10. Fishermantrails!

Finisher? Das ist viel zu kurz gesprungen, ich bin nicht einfach nur angekommen. Nicht im Mindesten hatte ich damit gerechnet, meine letztjährige Leistung wiederholen zu können und doch stehe ich jetzt im Ziel, mit einer nur um wenige Sekunden schlechteren Pace. Angesichts der längeren Strecke und der teils harten Wetterbedingungen fällt das aber kaum ins Gewicht. Sogar an meiner Platzierung habe ich noch geschraubt, bin als Gesamtvierter ins Ziel gekommen, dritter Mann und Sieger in meiner Altersklasse. Was für ein Lauf! Der Fishermanstrail scheint mir zu liegen.

Der schwebende Vorfußläufer

Erledigt und glückselig geselle ich mich zu den Wenigen, die schon im Restaurant sitzen. Umringt von Touristen, die ihren Fisch verzehren, beglückwünschen wir uns gegenseitig, erzählen uns kleine Anekdoten. Die Gäste scheinen sich zu fragen, was wir für seltsame Typen sind. Die Bedienung kommt und spricht ihr Lob aus. Mit hochgezogener Augenbraue fragt sie: “ Alles ohne Pause?“ Ich bestätige irritiert. Ist ja ein Wettlauf gewesen, da gibt es keine Pausen, außer denen, die man sich selbst gönnt.

Als ich das Lokal verlasse, erblickt mich ein zwischenzeitlich ins Ziel gekommener Läufer. „Da ist der Vorfußläufer!“, ruft er mir entgegen. Ich bin irritiert. „Doch, doch, erkenne ich an den grünen Sohlen.“ Mir gefallen meine neuen Nike Trailschuhe auch. „Als du mich überholt hast, bist du nicht vorbeigelaufen, sondern gefedert.“ Ich wiegele ab: „Da waren wir ja erst vier Kilometer gelaufen, du hättest mich mal am Ende sehen müssen!“ So kurz diese Wortwechsel sind, sie sind das Salz in der Suppe dieser Veranstaltungen.

Auf dem Weg zum Auto kommen mir Läufer entgegen. Ich feuere sie an, spende ernst gemeinten Applaus. Einer von ihnen ruft mir zu: „Du geiler Typ hast es schon geschafft!“ Wir klatschen ab und ich muss lachen. Es ist vielleicht ein schönes Schlusswort für die zehnte Auflage des 10. Fishermanstrail.

Der Lauf im Überblick

Distanz57,7 km
Zeit5:07:40 Std. / 5:20 min/km
Platzierung4. von 45 Teilnehmern
AK-Platzierung1. von 6 (M40)
StreckeEs geht im Uhrzeigersinn um den Plauer See, zuerst auf schönen Trail, besonders am Pätschsee. Das Tal der Eisvögel ist wunderschön und neu für mich, da es im Vorjahr gesperrt war.
Auf der Westseite folgt man Fahrradwegen, die man sich mit Fußgängern und Radlern teilt.
Wieder sicherten Helfer kritische Übergänge über Bundesstraßen.
BesonderheitenDas im Startgeld inbegriffene Abendessen am Vorabend des Laufs sowie das Frühstück sind schon besonders. Es gibt zudem Gelegenheit mit anderen Teilnehmern im Anschluss an den Lauf zu grillen.

Der Lauf im Vergleich

VeranstaltungDatumZielzeitPaceDifferenz zur Bestzeit
9. Fishermanstrail25.02.2023 (57,7 km)4:56:33 Std.5:14 min/km
10. Fishermanstrail26.02.2022 (56,6 km)5:07:40 Std. 5:20 min/km+ 11:07 min

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