Ob ich mich auf den Lauf freue? Ich muss meinem sechsjährigen Sohn gestehen, dass aktuell meine Angst überwiegt, weil mir die vor mir liegende Strecke ziemlichen Respekt einflößt. Fast 61 km stehen mir bevor – das kann einschüchtern. Obendrein erinnere ich mir nur allzu gut an meine letzte Teilnahme, meinen ersten offiziellen Ultramarathon, bei dem ich am Ende ordentlich litt.

Einmal um den Schweriner See ist doch gar nicht so weit, versucht mich mein Filius auszubauen. Der hat leicht reden, kann mit Distanzangaben noch nichts anfangen und hat zudem bedingungsloses Vertrauen in mein Leistungsvermögen. Wenn ich das doch nur auch hätte. Seit dem Ultramarathon um den Plauer See Ende Februar lief mein Training schlecht. Zwei Wochen verlor ich durch Krankheiten und der einzige Versuch eines langen Laufs scheiterte Grandios nach 28 km, von denen schon die letzten paar bescheiden waren. Immerhin: Die letzte Woche war ordentlich, doch hätte ich da vielleicht besser getapert, statt Kilometer zu sammeln. Sind das die Voraussetzungen, die für ein ordentliches Finish reichen?

Schneeregen vor dem 10. Fishermanstrail
Schneeregen vor dem 10. Fishermanstrail

Schneeregen peitscht ans Fenster, als ich die Vorhänge im Hotel zur Seite schiebe. Meine Lust am Laufen nimmt rapide ab. Dahinter steckt zum Teil auch der Wunsch, der jedes mal in mir hochkommt, wenn ein harter Lauf bevorsteht. Ich möchte dem Wettkampf mit mir selbst entrinnen, mich nicht der Herausforderung stellen müssen. Zumindest ein Teil von mir, der böse Engel auf der Schulter sozusagen. Gut, dass es noch einen anderen Teil von mir gibt, der dagegenhält. Kneifen gilt nicht. Dreieinhalb Stunden bin ich gestern mit dem Auto nach Alt Schwerin gefahren, um an der Jubiläumsauflage des Fishermanstrail teilzunehmen. Allein der Aufwand der Anreise und die Nacht im Hotel würden einen Verzicht auf den Start ad absurdum führen. Wie sollte ich das vor mir selbst rechtfertigen? Oder vor meiner Familie?

Das hätte ich wissen müssen! Der Südschnellweg ist an diesem Sonntagmorgen gesperrt. Ich bin eh schon eine halbe Stunde später dran als geplant, weil ich den Wecker abgedrückt habe und noch eine Weile im Bett geblieben bin. So kommt es, dass ich erst um kurz vor sieben Uhr in Springe ankomme und mich auf den Weg mache. Mein Weg soll mich – grob umrissen – zuerst nach Bad Münder führen, von dort dem E1 folgend über Hameln nach Aerzen und dann freestyle – also abseits des E1 – nach Bad Pyrmont.

Als ich mich auf einen Stuhl am zweiten Verpflegungspunkt setze, wühle ich nur noch pro Forma in meinem Dropbag. Die Zweifel in mir sind nach den ersten harten 32 km schon so groß, dass nur noch ein Rest Hoffnung auf ein Finnish beim 7. SuMeMa in mir glimmt. SuMeMa ist ein Akronym für Südkreis Meilenmarathon. Es handelt sich also um einen Ultralauf über 42,195 Meilen, die im südlichen Landkreis von Hildesheim zu bewältigen sind. Das bedeutet auch, dass ich noch fast 40 Kilometer vor der Brust habe. Rosige Aussichten.

7. SuMeMa 2023 - VP 2
Die Auswahl an Erfrischungen am 2. VP ist groß

Ich mache gute Mine zur schlechten inneren Stimmung und scherze mit den Helfern, schieße ein Bild vom unfassbar guten Büffet, das zum verweilen einlädt. Ich trinke meine Dose Cola, das mitgebrachte Marmeladenbrot lasse ich im Beutel, ich habe schon jetzt Probleme mit dem Essen. Auch die meisten Gummis und Gels lasse ich, wo sie sind. Ich schreibe schnell eine Nachricht nach Hause: „Ist richtig hart. Bin am zweiten VP bei 32 km. Es geht nur hoch und runter.“ Es ist die Kurzfassung davon, dass ich von der Art dieses Ultralaufs in vielerlei Hinsicht überrascht worden bin.

Draußen hängt noch der Nebel in den Tälern, Kühe grasen auf den Weiden. Der Läufer vor mir erklärt seiner Sitznachbarin, wo uns der Lauf später entlangführen wird. Dass es Jörn ist, der den Lauf in den letzten Jahren gleich mehrmals gewonnen hat, weiß ich jetzt noch nicht. Offenkundig ist, dass er den Lauf schon mehrmals hinter sich gebracht hat. Kein Newbie also. Ich bin nervös wegen der vor mir liegenden Aufgabe, den Solling von Bad Karlshafen im Süden nach Dassel auf der Nordseite des Höhenzuges zu überqueren, in toto 48 km mit ungefähr 1000 Höhenmetern.

„Der Brocken-Marathon ist ein Wettkampf mit ganz besonderen Anforderungen. Über 1000 Höhenmeter machen diesen Marathon zu einem der schwierigsten Ausdauerläufe Deutschlands. Nur sehr gut trainierte Läuferinnen und Läufer sollten diese Herausforderung riskieren.“ Mit meinem leichten Hang zum Masochismus zog mich die Beschreibung des Veranstalters schon seit einigen Jahren an. Doch entschied ich mich in den zurückliegenden Jahren regelmäßig für einen der klassischen Straßenmarathons im Herbst mit dem Ziel, dort meine persönliche Bestzeit zu verbessern und so passte der Lauf einfach nicht in meinen Kalender. Und so wäre es auch in diesem Jahr gekommen. Erst als ich den schon geplanten Bremen-Marathon kurzfristig wegen beruflicher Verpflichtungen hatte sausen lassen müssen, war endlich der Zeitpunkt für eine Teilnahme gekommen.