Lauftagebuch

Noch 200 Kilometer bis Hamburg

„The miracle isn’t that I finished. The miracle is that I had the courage to start.“, (John Bingham) Was Bingham meint, kennt jeder Läufer. Je länger die Strecke, die vor dir liegt, desto größer der erforderliche Mut, um sie zu laufen. Eine Feststellung, die sich nicht nur auf einen einzelnen Lauf beschränkt oder gar auf ein Rennen, für das man als Marathonläufer Anerkennung erntet. Anerkennung darüber, dass man in der Lage ist, so weit zu laufen. Meist gemischt mit einer Portion Unglauben, dass man so etwas freiwillig tut. Wie weit die „weit“ wirklich ist, spielt keine Rolle. „Weit“ ist weit genug, um die Leistung zu erkennen. Aber selbst diejenigen, die die genaue Länge eines Marathonrennens kennen, verkennen dabei eine wichtige Sache: Die 42,195 km – so die exakte Distanz – sind nur die letzten Kilometer eines viel längeren Rennens. Eines Rennens, das schon Monate zuvor unter Ausschluss der Öffentlichkeit begonnen hat, welches sich über unzählige Etappen zieht und hunderte Kilometer.

Die Rede ist von der spezifischen Vorbereitung auf einen Marathon. Hierin liegt die eigentliche Leistung (oder eben der Mut) des Marathonläufers. In der geduldigen und langfristigen Vorbereitung auf das Rennen, das dann nur noch die Kür ist, das Abrufen des über Monate Trainierten. Und dabei spielt auch das Tempo, in dem man einen Marathon laufen will, eine ganz entscheidende Rolle. Außenstehenden ist es völlig egal, wie schnell jemand einen Marathon läuft, eine Einschätzung ist ihnen häufig nicht einmal möglich. Das ist nachvollziehbar. Aber ein Läufer, der unter drei Stunden bleiben möchte, hat sehr viel mehr zu laufen als ein Läufer, der in sechs Stunden ins Ziel kommen möchte. Oder um Bild zu bleiben: Das Rennen des Sechs-Stunden-Läufers ist wesentlich kürzer als das Rennen des Drei-Stunden-Läufers – auch wenn beide am Renntag die gleiche Strecke laufen und der Schnellere sogar deutlich eher unter der Dusche steht.

Mein persönliches Rennen hat 64 Etappen, die sich über vier Monate verteilen und ungefähr tausend Kilometer erstrecken. So viele sind es bisher noch nie gewesen, auch wenn es sich nicht um meinen ersten Marathon handelt. Diesmal möchte ich schneller sein als jemals zuvor. Bereits jetzt habe ich mehr als 870 km hinter mich gebracht, allein gut 320 km im März. Das ist die Strecke Hannover-Hamburg und wieder zurück. Woche für Woche vier Einheiten – sozusagen Etappen – eines fast tausend Kilometer umfassenden Rennens. Das Gröbste habe ich damit schon hinter mich gebracht, denn bis zur letzten Etappe in Hamburg am 29.4. sind es nur mehr 200 km. In Hamburg selbst bleiben dann noch 42,195 km. Für sich genommen schon ein weiter Weg – und ich würde lügen, wenn ich nicht eine gewisse Angst davor habe – aber verglichen mit der gesamten Distanz von Tausend Kilometern eben doch nur ein Bruchteil.

Das Rennen an sich ist somit nur die vielzitierte Spitze des Eisbergs. Der weitaus größere Teil besteht aus langwierigem, oft monotonem Training, bei dem niemand an der Strecke steht und anfeuert, niemand Getränke reicht und an dessen Ende keine Medaillen oder Bestzeiten warten. Und doch sind sie unerlässlich, weil ein Marathon ohne sie nicht möglich wäre. Das eigentliche Rennen am Tag der Tage ist dann nur noch die Belohnung.

Binghams Zitat zielt wohl auf das eigentliche Rennen ab, nicht auf einen gesamten Trainingsplan, wie ich es gerade ausgelegt habe. Und dennoch bleibt für mich das eigentliche bewundernswerte, dass man überhaupt mit einen Trainingsplan beginnt und bis zum Rennen durchzieht. Dass man am Ball bleibt, wenn morgens der Wecker um 5 Uhr für einen dreistündigen Trainingslauf auf nüchternem Magen klingelt, weil möglichst wenig Zeit vom Tag mit Partnerin und Kindern verloren gehen soll. Dass man auch dann losläuft, wenn es regnet und stürmt, der Trainingsplan aber noch 16 km langsamen Dauerlauf vorsieht, ehe man vom Regen durchnässt und ausgekühlt heimkehrt. Dass man im Dunkeln bei -10 °C auf dem Thermometer Tempodauerläufe absolviert, an deren Ende man Eiskristalle im Bart hat und die Arme wegen der Kälte taub sind. Dass man nicht aufgibt, wenn man beim zweiten von sechs Intervallen die Muskeln brennen, die Lunge pfeift und man resigniert feststellt, dass man heute trotz aller Schmerzen und Anstrengung die Zeitvorgaben nicht halten kann. Dass man sich wieder und wieder motiviert, gegen alle Umstände  und alle guten Gründe, die es gibt, zuhause zu bleiben und die zahlreichen Ausreden einfach beiseite schieb.

Das ist es, was ich die letzten Wochen getan habe. Sicher, das ist auch bescheuert. Aber das ist das Wunder! Das ist Marathonlaufen.

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