Lauftagebuch

Mein erster Ultra – Ein Lauf zum Schloss Marienburg

Geschafft! Erster Ultramarathon im zweiten Anlauf. Nachdem ich mich vor drei Wochen spontan erstmals an einem Ultralauf über 50 km probiert und nach 31 km abgebrochen hatte, startete ich am vergangenen Samstag den zweiten Versuch. Diesmal sollten es 44 km werden. Nur ein wenig mehr, als bei der klassischen Marathondistanz, aber wer jemals einen Marathon gelaufen ist, weiß: Zwei Kilometer am Ende eines Marathons sind anders als zwei gewöhnliche Kilometer, sie sind härter und länger, können sich ewig ziehen und die letzten Reserven kosten.

Die Distanz war nicht bewusst gewählt, sondern durch das Ziel vorgegeben. Bei einem Familienausflug zum Schloss Marienburg vor einer Woche sah ich beim Verlassen des Parkplatzes ein Hinweisschild: „Hannover 49 km“. Das ist ja gar nicht so weit, zumal ich gar nicht in Hannover wohne, sondern östlich davon. Ich machte auch meine Frau darauf aufmerksam und sie sprach aus, was ich dachte: „Das kannst du ja laufen.“. Danke, das wollte ich hören.

Erst noch unbestimmt, dann immer konkreter beschäftigte ich mich mit der Planung des Laufs. Bereits Dienstag hatte ich eine Route er- und festgestellt, dass es von meiner Haustür bis zum Burgtor fast exakt 44 km waren. Das war machbar, ich war zuversichtlich. Einen finalen Entschluss zu fassen, traute ich mich dennoch nicht und behielt die Idee vorerst noch für mich. Erst im Laufe des Donnerstags rückte ich mit der Sprache raus und sicherte mir die Unterstützung meiner Frau. Ohne sie würde ich am Zielpunkt stranden und ich war bestimmt nicht gewillt, den Weg wieder zurückzulaufen. Denkbar war natürlich, den Rückweg mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen, aber das wäre nur die Notlösung.

Um 7:08 Uhr fällt der Startschuss

Samstag, 6 Uhr, klingelte der Wecker. Ich hatte mit meiner Frau verabredet, dass sie mich gegen 11 Uhr abholen würde. Was für ein Service! Liefe ich um 7 Uhr los, blieben mir vier Stunden. Das würde reichen.

Läuferfrühstück
Läuferfrühstück

Das Frühstück bestand aus Wasser, Kaffee und einem Müsliriegel. Den Marathon vor vier Wochen war ich noch auf nüchternen Magen gelaufen, heute ging ich auf Nummer sicher. Schon ohne die Lauferei würde ich bis 11 Uhr ganz sicher Kohldampf bekommen. Auf einen Hungerast zwischen Pusemuckel und Klein Irgendwas könnte ich gut verzichten. Was die Energieversorgung angeht, konnte ich bisher bei mir noch keinen signifikanten Unterschied zwischen Läufen mit Frühstück bzw. ohne feststellen. Rein subjektiv lief es ohne bei mir sogar besser.

7:08 Uhr war es schließlich, als ich meine Uhr startete, 44 km lagen nun vor mir. Bis Ilten würde es auf mehr oder weniger bekannten Pfaden gehen, dahinter würde Neuland beginnen. Davon erhoffte ich mir einen Schub, denn erfahrungsgemäß halten neue Strecken mich bei Laune, lassen Zeit und Entfernung schneller vergehen.

Nicht schön, sondern direkt

Relativ früh meldete sich mein leicht verkrampfter Magen, bis ich nach gut sieben Kilometern eine geschützte Stelle suchen musste. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, aber nun ging es besser, das unangenehme Gefühl war vollständig verschwunden und ich konnte mich auf das Laufen konzentrieren. Zu meiner Rechten passierte ich gerade den Blauen See direkt hinter der A2 zwischen Ahlten und Aligse. Ein Ruderboot lag vertäut am Ufer, ein schöner Anblick in einer sonst industriell geprägten Landschaft. Umspannwerk, Mega-Hub, Industriegebiete. Bei der Wahl der Route hatte ich dem Routenplaner von Garmin ziemlich freie Hand gelassen, nur an wenigen Stellen korrigierend eingegriffen, um bestimmte Stellen zu umgehen. Das Ziel und die Streckenlänge waren die bestimmenden Parameter gewesen, nicht die Schönheit entlang der Strecke. Das würde, so hoffte ich, noch kommen. Wenigstens in der Nähe des Zieles!

Nach 14 km gönnte ich mir mein erstes Gel. Ich hatte kurzerhand noch Gels von sis bestellt, weil ich die immer mal testen wollte. Nach dem Auspacken war ich wegen der exotischen Geschmacksrichtungen etwas skeptisch gewesen, fand Geschmack und Konsistenz jetzt aber überraschend gut. Aber beim Laufen freut man sich ja eh über jede Kleinigkeit, die man sich gönnt, das sind immer richtige Highlights. Neben zwei Gels und einem sog. Gelchip von Ultra Sports hatte ich einen halben Liter Wasser bei mir. Durch die kalten Temperaturen würde mein Flüssigkeitsverlust nicht allzu stark sein, hoffte ich.

Weniger weit als erhofft

Vor mir lag ein Ort, den ich nicht genau zuordnen konnte. Ich hatte den Teil der Strecke erreicht, der mir unbekannt war. Gleichzeitig fing es an zu schneien. Im Ort – Ilten, wie sich später herausstellen sollte – passierte ich eine öffentliche Uhr. Halb neun Uhr erst? Ohne auf die Entfernungsangabe meiner Uhr zu sehen, wusste ich, dass ich noch nicht so weit gelaufen war, wie ich es mir erhofft hatte. Vielleicht 20 km, eher weniger. Die Aussicht noch 2,5 Stunden zu laufen, nagte kurzzeitig an meiner Zuversicht. Die Erschöpfung beginnt immer im Kopf, habe ich mal gelesen. Das stimmt nicht generell, aber ich weiß, was damit gemeint ist. Von einem auf den anderen Moment fiel mir das Laufen schwerer. Allein nur deshalb, weil ich mir der noch zu bewältigenden Distanz gewahr wurde.

Ich unterdrückte den Kontrollblick zur Uhr, das war auch gar nicht nötig, ich konnte mir nur allzu gut alles ausrechen. Als ich im nächsten Ort kurz orientierungslos auf meine Uhr glotzte, um die richtige Strecke zu finden, kam dann die Bestätigung: 17 km. Uff, das musste verdaut werden. Ich hatte während der bisherigen Strecke nicht auf die Uhr geschaut und trotz des Piepsen, das nach jedem zurückgelegten Kilometer ertönte, bewusst nicht mitgezählt. Das ist bei langen Distanzen meine übliche Taktik und jedes Mal aufs Neue bin ich überrascht, dass ich nach ungefähr 7 Kilometern tatsächlich irgendwann nicht mehr genau weiß, wie weit ich eigentlich gelaufen bin.

Jetzt bestätigte die Uhr, was ich ohnehin wusste, seit ich die Uhrzeit gesehen hatte. Es lagen noch 27 km vor mir. Das sollte man lieber nicht zu oft vor sich hersagen, das kann schnell zu einer Aufgabe werden, die man sich nicht zutraut. Ich machte mich also daran, nicht zu sehr über das vor mir Liegende nachzudenken und mich mehr mit dem aktuellen Moment zu beschäftigen. Mir ging es gut, ich hatte noch keine wirklichen Schwierigkeiten. Wo war also das Problem? Es gab keins.

Der Impuls stehenzubleiben

Rechts von mir tat sich unvermittelt ein riesiger Abgrund auf. Was war das denn? War das die bekannte Mergelgrube, in der sich gerüchtehalber Fossilien ausbuddeln ließen? Ja, es schien tatsächlich so. Jetzt lebte ich schon so viele Jahre hier in der Gegend und hatte diesen Ort noch nie gesehen. Ich überquerte den Mittellandkanal, danach wurde die Strecke für eine Weile schlechter, eine Treckerfurche, mehr nicht. Nach einem kurzen Stück auf einer Kreisstraße führte die Route dann über einen Forstweg. Leider nur kurz. Ich überquerte die A7, um dann ein Stück parallel zu ihr zu laufen. Ich kannte das Stück Autobahn. Wofür ich mit dem Auto nur wenige Sekunden benötige, brauchte ich zu Fuß mehrere Minuten.

Ich streifte kurz ein Wohngebiet, ein Frau beobachtete mich und ich fragte mich, was sie wohl dachte. Ob sie eine Ahnung hatte, wie weit ich schon gelaufen war? Natürlich nicht. Aber irgendwie wünschte ich es mir. Inzwischen hatte ich eine neue Taktik begonnen. Ich nahm mir vor, fünf Kilometer zu laufen. Waren die fünf Kilometer geschafft, nahm ich mir weitere fünf Kilometer vor. Und immer so weiter, so lange ich es schaffte.

Noch bevor ich die zweiten fünf Kilometer voll hatte, kam ich wieder in einen Ort. Hier verkehrte eine Straßenbahn und an jeder Haltestelle hingen Uhren. Ich konnte nicht umhin, abermals die Uhrzeit zu lesen. Und erneut versetzte es mir einen Hieb. Es ging auf 10 Uhr zu. Noch über eine Stunde würde ich brauchen, verdammt und zugenäht. Wie immer in solchen Momenten, rasten die Gedanken im Kopf. Ging die Uhr korrekt? War es nicht vielleicht schon später? Möglicherweise war die Uhr nicht umgestellt worden? Machte auch keinen Sinn. Ich war für einen kurzen Augenblick sicher, dass jetzt Schluss war und wollte stehenbleiben. So schnell der Impuls entstand, verschwand er wieder, indem ich einfach weiterlief. Es war nicht die körperliche Verfassung, sondern die mentale, die mir gerade fast zum Verhängnis geworden war.

Warten, warten, warten

Warten auf die Schranke

Ich war in Gleidingen, erfuhr ich auf dem Schild am Ortsausgang. Der nächste Ort war eineinhalb Kilometer entfernt und hieß Heisede. Kannte ich noch aus meiner Kindheit, schließlich war ich in der Gegend aufgewachsen. Geographisch zuordnen konnte ich das alles aber nicht. Ich lief weiter, bis ich an einem Bahnübergang von der Schranke gestoppt wurde. Kurz noch spielte ich mit dem Gedanken, unter der sich schließenden Schranke hindurch zu sprinten, entsann mich aber aus zwei Gründen eines besseren. Sprinten war aktuell eine ebenso schlechte Idee wie der Gedanke überhaupt.

Hatte ich nicht erst Mitte der Woche gelesen, was das Umfahren einer Schranke mit dem Fahrrad an Strafe kostete? Von der Gefahr ganz zu schweigen. Ich übte mich also in Geduld und nutzte die Pause dafür, mein zweites Gel zu nehmen und ausgiebig zu trinken. Von meiner geistigen Erschöpfung vor wenigen Minuten war nicht viel übrig geblieben. Ich war wieder guter Dinge und freute mich, dass ich mich bereits auf der Marienburger Straße befand. Ich begann mich zu dehnen. Dann fotografierte ich die rote Ampel. Und noch immer ging es nicht weiter. Ganze acht Minuten und drei Züge später konnte ich mich endlich wieder in Bewegung setzen. Heilfroh, nicht weiter bewegungslos in der Kälte ausharren zu müssen. Wäre das Loslaufen nur nicht so schmerzhaft gewesen.

Für ein paar Augenblicke war ich überzeugt, dass ein Weiterlaufen so nicht möglich sei. Und lief weiter. Das Ziehen und Ziepen ließ nach und ich wurde wieder warm. Im nächsten Ort überquerte ich die Leine, der folgende Anstieg ging mir einigermaßen in die Beine und erinnerte mich daran, dass am Ende des Laufs noch ein finaler Anstieg auf mich warten würde. Na toll. Aber ich hatte schon vorsorglich angekündigt, den notfalls hinauf zu gehen.

Schmerzen am Zeh

Zurück in der Region Hannover
Kurz vor Jeinsen war ich zurück in der Region Hannover

Zwei Kilometer weiter sah ich kurz hinter dem kleinen Ort Schliekum erstmals das Schloss Marienburg in der Ferne. Wobei Ferne genau das trifft, was ich empfand. Anhand der Größe des Schlosses schätzte ich die Entfernung größer ein, als sie objektiv noch war, auf die Uhr wollte ich aber auch nicht schauen. Meine Verfassung war nicht mehr die beste. Zwischen Schliekum und Jeinsen passierte ich die Grenze zwischen dem Kreis Sarstedt und der Region Hannover. Langsam aber sicher wuchs die Größe des Schlosses, das ich nun fast permanent auf der linken Seite des Marienberges sah.

Ich brauchte mir nichts mehr vorzumachen, inzwischen war ich am Kämpfen und biss die Zähne zusammen. Auf einem abschüssigen Weg erreicht ich gerade Schulenburg als ein plötzlicher Schmerz durch meinen rechten Fuß fuhr. Seit Kilometern war ich immer empfindlicher am „Zeigezeh“ geworden, vermutlich ein Blase, die ich mir dort gelaufen hatte. Diese machte sich jetzt schmerzhaft bemerkbar, als ich bergab laufend in meinem Schuh nach vorne gerutscht war. Ich nahm es als willkommenen Anlass, einen Moment zu pausieren.

Ich war ziemlich geschafft und ab jetzt wurde es hart. Trotz des Zustands, wagte ich jetzt den Blick zur Uhr. Ich hatte im Prinzip keine Wahl, ich musste wissen, wie weit ich noch zu laufen hatte. Wäre die restliche Strecke zu groß, würde ich in Schwierigkeiten geraten. Der Blick zur Uhr verriet mir: 40,2 km weit war ich gekommen. Blieben mir nur noch vier Kilometer! Das war gut, das würde ich schaffen. Wehtun würde es trotzdem.

Endspurt zum ersten Ultramarathon

Ich setzte mich wieder in Bewegung, Endspurt sozusagen. Nach einem kleinen Hügel ging es noch einmal bergab, das kam mir sehr gelegen. Würde ich noch einmal pausieren müssen, dann erst nach der Marathondistanz, hatte ich mit mir ausgemacht. Und ich hielt mich dran. Kurz bevor ich 43 km geschafft hatte, machte ich an einer Wegkreuzung kurz halt. Ich war unschlüssig. Geradeaus ging es flach weiter, rechts zog sich ein Weg hinauf. Was der richtige Weg war, konnte ich auf dem Display der Uhr nicht zweifelsfrei feststellen und entschied mich für den Weg des geringeren Widerstands, ahnte aber schon, dass das nicht richtig war.

Es kam, wie es kommen musste, ich hatte den falschen Weg eingeschlagen. Ich kehrte um, um widerwillig den Anstieg in Angriff zu nehmen. Mit einer Mischung aus Laufen, Gehen und kurzen Pausen mühte ich mich bergan, dann wurde der Weg so miserabel, dass an Laufen nicht mehr zu denken war. Forstfahrzeuge hatten den Weg in eine morastige Pampe verwandelt, um die ich so gut es ging herumtänzelte. Erst als ich wieder auf asphaltierter Straße stand, nahm ich das Laufen wieder auf.

Der Parkplatz des Schlosses befand sich nun unmittelbar vor meiner Nase, aber die 44 km waren noch nicht voll. Ich lief also unter leicht irritierten Blicken der Besucher weiter durch den Sachsenwall und direkt auf den Eingang des Schlosses zu. Dann piepte es und die Uhr teilte mit, dass ich die Strecke beendet hatte. Ein „Glückwunsch, das war ein Ultramarathon.“ wäre auch nett gewesen.

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