Wettkampfberichte

Ich bin jetzt Ultraläufer – Der 5. Schweriner Seentrail

Der 5. Schweriner Seentrail war für mich der erste richtige Wettkampf seit mehr als eineinhalb Jahren. Und zugleich mein erster offizieller Ultralauf überhaupt. Mit 61 km war die Distanz ganze zehn Kilometer länger als die weiteste Distanz, die ich zuvor jemals gelaufen bin. Sonne und eine überraschend anspruchsvolle Strecke um den Schweriner See – wer hätte gedacht, dass man an den Ufern eines Sees so viele Ansteige zu bewältigen hat? -verlangten mir gerade auf den letzten 15 km alles ab, bis ich nach 6:36 Std. abgekämpft aber glücklich im Ziel ankam und von einem Gefühlschaos übermannt wurde.

Frühstück ist wichtig!

Der Morgen beginnt nicht optimal. Ich habe mittelmäßig geschlafen, bin in der Nacht völlig desorientiert aufgewacht und jetzt zu blöd, mein Porridge aus der Ablage in der Tür des Kühlschranks zu befreien. Bis ich kapiert habe, dass dieser Kühlschrank eine Innentür hat, bin ich in Gedanken schon dabei meine Verwandten zu wecken, bei denen wir dieses Wochenende verbringen. Ich habe ein flaues Gefühl in der Magengegend – Durchfall oder Nervosität? Genau kann ich es nicht benennen. Gut, dass ich meine Sachen schon am Vorabend präpariert und bereitgelegt habe. Vor einem Wettkampf bin ich unbrauchbar, nervös und fahrig. Ich sehne jetzt schon den Start herbei. Wenn ich endlich laufen darf, wird alles einfacher. Einfach nur laufen.

Warme Worte

Alles ist vorbereitet für den 5. Schweriner Seentrail
Alles ist vorbereitet für den 5. Schweriner Seentrail

Ich werde zur Turnhalle am Ziel gefahren. Hier hat sich schon eine bunte Schar Läufer eingefunden. Ich beäuge die anderen Teilnehmer, frage mich, wer – wie ich – erstmals einen Ultramarathon läuft und wer Veteran ist. Es ist eine Eigenart von mir, die andern Läufer und Läuferinnen stärker einzuschätzen. Ich bin einfach unsicher. Noch nie bin ich in einem Wettkampf über die Marathondistanz hinaus gelaufen und im Training auch „nur“ 51 km. Ein einziges Mal. Heute sollen es 61 km werden. Das ist noch einmal eine ganz andere Nummer und ich habe schon bei viel kürzeren Läufen sehr unschöne Erfahrungen gemacht. Bei einem Lauf dieser Länge, weiß man am Ende nie was passiert.

Ich versuche das Gedankenkarussell und meine Nervosität im Zaum zu halten. Derweil macht mir meine Verdauung weiterhin Probleme und lässt mich das Klo aufsuchen, bevor ich mir interessiert das Briefing anhöre. Wir werden auf besondere Tücken und Hindernisse auf der Strecke hingewiesen und angehalten, uns auf den zu überquerenden Feldern und Zeltplätzen zurückhaltend zu benehmen. Am wichtigsten ist: Rot sind die Wegweiser, die uns zum Ziel führen werden, nicht gelb. Das sind die Zeichen des Heldenmarsches, der ebenfalls heute stattfindet, aber in entgegen gesetzter Richtung um den See führt.

Warmlaufen

Nach dem Briefing werden wir zum Warmlaufen gebeten, dem ominösen „kalten Start“, von dem in der Ausschreibung so bedeutungsschwer die Rede war. Der „heiße Start“ – also der eigentliche Rennbeginn – soll auf der fast drei Kilometer entfernten Schlossbrücke erfolgen. Heißt: Drei Kilometer extra, ob wir wollen oder nicht. Theoretisch hätte man auch direkt zur Brücke kommen oder einen Transfer organisieren können, doch ich sammle noch vor dem Start etwas unwillig die ersten Bonusmeilen. Und weil sich die Sonne bereits jetzt entgegen der Prognose ziemlich ins Zeug liegt, schwitze ich auf dieser kurzen Strecke schon an. Das ist kein gutes Zeichen!

Das Warmlaufen ist aber auch ein guter Anlass, mit anderen ins Gespräch zu kommen und das aus 107 Teilnehmern bestehende Läuferfeld kennenzulernen. Ich höre Gespräche zwischen anderen Läufern. Einer ist vor einer Woche den 160 km langen Mauerwegslauf gelaufen, ein anderer plant eine Zeit von fünf Stunden. Es gibt aber auch andere, deren Tagesziel einfach nur „Ankommen“ heißt. Ich weiß nicht, was ich kann, was ich schaffe und bin mit meinen Gedanken allein.

Startschuss für den 5. SST

Kurz vor dem Start des 5. SST auf der Schlossbrücke
Kurz vor dem Start des 5. SST auf der Schlossbrücke

Endlich geht’s los! Kaum sind wir in Bewegung, der erste Jubelruf aus dem Läuferfeld: „Ja! 100 Meter geschafft.“ Jetzt sind es nur noch 60.800 Meter. Dann wird der obligatorische Barfußläufer im Feld auf die Schippe genommen: „Ey, du hast deine Schuhe vergessen!“ Ich laufe bewusst langsam, leicht über sechs Minuten pro Kilometer. Ganz so, als sei dies ein GA1-Lauf. Mein Plan für heute ist, dass ich mich zwischen 5:45 und 6 Minuten bewegen werde, aber dieser Plan gerät schon früh aus den Fugen. Nach drei Kilometern geht es runter vom Radweg und wir laufen auf einem Trampelpfad. Es geht querfeldein, bergauf und bergab, teils so steil, dass wir zum Gehen gezwungen sind. Der Pfad ist so eng, dass ein Überholen unmöglich ist. Es soll ein kleiner Vorgeschmack auf das werden, was die Strecke später noch bereithält.

Start des 5. Schweriner Seentrails © ttfoto.de
Start des 5. Schweriner Seentrails © ttfoto.de

Nach rund vier Kilometern sind wir in Zippendorf, wo heute Strandfest ist, kommen aber vor der offiziellen Eröffnung hier an. Ich bin beeindruckt vom halb zerfallenen Strandhotel und genieße die Morgensonne. Mit jedem Schritt lasse ich meine Anfangsnervosität weiter hinter mir. Vorhin sprach mich ein Mitläufer mit den Worten an, ich laufe so schön mit Handbremse, man spüre förmlich, dass ich schneller könnte, mich aber zurückhielte. Ich entgegne, dass ich nicht unnötig Körner verschwenden will, die Strecke noch lang genug sei. Würde ich mit den Jungs an der Spitze laufen, könnte ich meine Sachen wahrscheinlich schon nach der Hälfte der Runde um den See packen. Es fällt ihm schwer zu glauben, dass die Sieger nur etwa 4:30 Std. brauchen werden. Da bin ich anscheinend besser informiert als er, dafür hat er mir was anderes voraus: Er hat diesen Lauf schon gefinisht.

Ein Hoch auf den Streckenposten

VP 1 in Muess - 10 km sind geschafft
VP 1 in Muess – 10 km sind geschafft

Der erste Verpflegungspunkt wartet nach 9,5 km. Hier hat sich meine Familie postiert. Ich klatsche die Kleinsten ab und freue mich über den Zuspruch. Das Angebot, mich zu verpflegen, schlage ich aus. Wasser habe ich noch ausreichend und auch Gel führe ich bei mir. Ich will erst später im Rennen auf die ausgelegte Verpflegung zurückgreifen. Immerhin habe ich jetzt meinen Faltbecher, den ich mir gestern noch besorgt hatte. Der Lauf hat sich der Nachhaltigkeit verschrieben und es gibt nur Getränke, wenn man einen entsprechenden Becher bei sich führt. In der Hektik heute Früh, hatte ich nicht mehr daran gedacht und ihn jetzt von meiner Frau zugesteckt bekommen.

Weil viele der Läufer und Läuferinnen am Verpflegungspunkt halten, mache ich einige Plätze gut. Das ist zwar zu diesem Zeitpunkt und generell nicht wichtig, fühlt sich aber trotzdem gut an. Überhaupt: Klar, irgendwie hoffe ich auf eine halbwegs vorzeigbare Platzierung, will aber in aller erster Linie überhaupt nur ankommen. Direkt nach dem VP laufe ich über eine Brücke. Im Briefing hieß es noch: Bitte – ganz wichtig – nicht unten durch, sondern über die Brücke. Sonst landet ihr in Königs Wusterhausen. Ohne den Streckenposten wäre ich glatt Gefahr gelaufen, genau diesen Fehler zu begehen.

Auf meiner Uhr war der Weg nicht exakt zu erkennen und Streckenmarkierungen hatte ich auch keine gesehen. Auch das ein kleiner Vorgeschmack auf das, was im weiteren Rennverlauf noch kommen wird. Generell war die Gefahr, falsch abzubiegen zu diesem Zeitpunkt noch einigermaßen gering, weil das Feld noch so dicht zusammen war, dass man immer jemanden vor sich im Blick hatte. Vorausgesetzt, dieser jemand hatte sich nicht verfranzt, fand man automatisch den richtigen Weg.

Deshalb heißt es „Trail“!

Noch lässt es sich gut laufen, gleich wird es ein echter Traillauf © ttfoto.de
Noch lässt es sich gut laufen, gleich wird es ein echter Traillauf © ttfoto.de

Es wird waldig. Den südlichsten Punkt der Strecke habe ich hinter mir und laufe nun auf der Ostseite des Sees. Ich wurde bereits unterrichtet, dass es hier abenteuerlich werden wird, bin aber trotzdem von dem überrascht, was nun kommt. Zuerst geht es noch auf gut laufbaren Forst- und Waldwegen entlang und ich spule meine Kilometer gleichmäßig ab. Dann wird die Strecke allmählich immer schmaler, bis sie sich in einen echten „Singletrail“ verwandelt. Der Pfad ist schlüpfrig, mit Wurzeln und Steinen übersät. Immer wider müssen wir Anstiege hinauf, unter Bäumen hindurch oder über Stämme hinweg, auf schmalen Brettern müssen Bäche überquert werden. Der Pfad ist so eng, dass Überholen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Vor mir sind zu diesem Zeitpunkt zwei Läuferinnen unterwegs und nach einer Weile hat sich hinter mir eine Schlange gebildet.

Irgendwann werde ich ungeduldig. Der Trail ist schwierig, aber inzwischen sind wir für meinen Geschmack langsamer als notwendig. Für Kilometer 17 brauche ich fast acht Minuten und auch der folgende liegt nur knapp über sieben Minuten. Bei der erstbesten Gelegenheit überhole ich und mache mich, so meine ich zu hören, unbeliebt. Innerlich bin ich im Zwiespalt. Die Beiden schauen recht erfahren aus und sind mit – so scheint es mir – reichlich Zuversicht unterwegs. Was ist, wenn die mich bei Kilometer 35 einsammeln? Mache ich mich nicht lächerlich, wenn ich jetzt auf die Tube drücke und später abkacke?

Ich habe Hitze

Mir läuft jetzt schon die Suppe. Die Schweißtropfen perlen mir vom Gesicht, dass es eine wahre Freude ist. Das ist kein gutes Zeichen, es ist zu warm für meine Verhältnisse. Erfahrungsgemäß baue ich nach hinten raus dann ab. Auch meine Uhr bescheinigt mir nicht die besten Leistungswerte. Praktisch beim Loslaufen war mein Leistungszustand schon weit im negativen Bereich. Ein schlechtes Omen? Ich weiß es nicht und es bringt nichts, sich dadurch verrückt machen zu lassen. Im Augenblick fühle mich nichtsdestoweniger gut und stark und was in einigen Stunden sein wird, ist ein Blick in die berühmte Glaskugel. Also überhole ich. Wenigstens versuchen muss ich es doch. Wenn es schiefgeht, dann ist es eben als Anfängerfehler zu verbuchen.

Kurz darauf komme ich aus dem Wald und der Streckenposten gibt mir mit auf den Weg, dass ich das Abenteuer jetzt hinter mir habe und es ab hier einfacher zu laufen ist. Ich bin ganz froh, wieder auf normalem Terrain unterwegs zu sein. Ich will ein paar Kilometer in einem vernünftigen Schnitt laufen. Das ist immer noch weniger schweißtreibend und anstrengend als das Laufen auf dem hinter mir liegenden Trail. Am zweiten Verpflegungspunkt bleibe ich kurz stehen und mache Gebrauch von meinem Becher. Es gibt Cola, von der ich mir zwei kleine Becher gönne. Dann geht es weiter und wieder bleiben etliche Läufer hinter mir, die sich am VP gemütlich einzurichten scheinen. Ich bleibe trotz des Stopps unter sechs Minuten auf diesem Kilometer.

Anders als es der Streckenposten versprochen hat, geht es zunächst mal über ein Feld. Zuerst noch über eine Furche, die der Bauer hier mit seinem Traktor hinterlassen hat, dann direkt auf dem Feld. Erst in Rampe verläuft der Kurs wieder auf asphaltierten Wegen. Die Halbmarathonmarke ist erreicht, kurz bevor wir die B104 queren. Wir wurden schon im Briefing dazu angehalten, die Ampel zu verwenden und auch die Helferin weist mich auf die Ampelanlage hin. Ich entscheide mich – auf eigene Verantwortung – dennoch dagegen und passe eine Lücke im Verkehr ab. Im Augenblick habe ich es ein wenig eilig.

Kilometer sammeln auf dem Fahrradweg

Von nun an laufe ich kilometerweit auf einem gut ausgebautem Fahrradweg, spule meine Kilometer gleichmäßig ab, merke aber, dass sich eine gewisse Monotonie einstellt, die nur durch Zufallsbegegnungen mit Passanten durchbrochen wird. Mal sind es die Fahrradbegleitungen anderer Teilnehmer, mal sind des Fahrradfahrer, die das Wetter für einen Ausflug nutzen. Viel passiert nicht. Als ich von einer Gruppe Fahrradfahrer überholt werde, dreht sich der letzte Radler in der Gruppe um. Das sieht noch locker und leicht aus, ruft er mir zu. Ich freue mich über das Kompliment, bremse ihn aber auch ein bisschen aus, indem ich entgegne, dass das nichts heißen muss, 40 Kilometer hätte ich noch vor mir. Als ich es ausspreche, wird mir mulmig. Allzu lange über das, was noch vor mir liegt, will ich lieber nicht nachdenken, sonst zieht mir das schneller den Stecker als mir lieb ist.

Zwischen Rampe und Retgendorf nach ungefähr 25 km  © ttfoto.de
Zwischen Rampe und Retgendorf nach ungefähr 25 km © ttfoto.de

Den Verpflegungspunkt bei Kilometer 27 lasse ich ungenutzt, überhole dadurch den einzigen Läufer, der schon seit einer halben Stunde vor mir herläuft und sehe ihn danach nicht wieder. Als ich auf einen Campingplatz komme, werde ich von drei Kindern erwartet, die mich namentlich ansprechen. Mein Name auf der Startnummer ist groß genug, um aus einigen Metern Entfernung gelesen zu werden. Als ich die Drei abklatsche, sagt das Mädchen, ihr Freund, meine, dass ich wie Prinz William aussehe. Über die Schulter frage ich zurück, ob das gut oder schlecht sei, erhalte aber keine Antwort.

Ein bisschen Stimmung bevor es ernst wird

Die 30-km-Marke erreiche ich nach etwas weniger als drei Stunden, ich befinde mich in Flessenow. Das Kilometerschild weiß: „Durch diese hole Gasse wird er kommen.“ Unfreiwillig weiche ich kurz ein kleines bisschen von der Strecke ab. Es soll nicht das letzte Mal bleiben. Nach dem langen Fahrradweg tut es gut, jetzt wieder anderes Geläuf unter die Füße zu nehmen. Der Weg führt durch einen Wald. Ich bin direkt etwas euphorisch und fühle mich erinnert an meinen ersten 50-km-Lauf, bei dem ich in etwa zum gleichen Zeitpunkt ein ganz ähnliches Streckenprofil hatte.

Abwechslung kommt auch durch die jetzt zahlreichen Teilnehmer des Heldenmarsches auf. Immer wieder kommen mir einzelne Teilnehmer oder Grüppchen entgegen. Ich werde beklatscht, aufgemuntert und namentlich motiviert. Ich erwidere die Aufmunterung, schließlich haben sie selbst noch 35 Kilometer vor sich. Vorteil für mich, ich habe „nur noch“ 26 km zu laufen. Auch das ist noch ganz schön viel. Nicht denken, laufen!

Hinter mir höre ich Schritte und denke, dass ich erstmals seit Stunden überholt werde. Vielleicht der Läufer, den ich am dritten VP hinter mir gelassen habe. Irrtum, wieder sind es nur Radfahrer. Stattdessen hole ich immer mal wieder andere Läufer ein. Das tut gut und gibt einen kleinen Extraschub. Weil ich aus dem Wald heraus bin, spüre ich die Hitze jetzt sehr intensiv. Es ist definitiv wärmer als angekündigt und die Temperatur dürfte über den als Maximaltemperatur angesagten 20 °C liegen. Kurz vor Hohen Viecheln geht es richtig schön bergauf, dann kreuze ich Bahngleise. Glücklicherweise kommt gerade kein Zug. Andernfalls dürfte ich jetzt eine unfreiwillige Pause einlegen.

Endlich eine kurze Pause

Pause ist aber ein gutes Stichwort. Meine Blase drückt schon seit mehr als drei Stunden und ich betrachte den Zeitpunkt als gekommen, der Natur zu ihrem Recht zu verhelfen und verdrücke mich ins Dickicht am Tunnel, der unter den gerade überquerten Gleisen hindurchführt.

Hinter dem Tunnel wartet der nächste VP und diesmal nutze ich die Chance, um mich ausgiebig zu verpflegen. Ich fülle meine Flaschen mit Wasser und gönne mir von den gekochten Kartoffeln mit Salz. Großartig! Auch die anderen Läufer und Läuferinnen verharren ein Weile am Stand. So lange stand ich noch nie in meinem Läuferleben an einem Verpflegungsstand. Ich mache ein wenig Smalltalk mit den Helfern und feiere die Kartoffeln und die süße Cola. Dementsprechend brauche ich satte 8:42 min für den 37. Kilometer. Nach der Pause geht es frisch weiter im gleichen Schnitt wie vor der Verpflegung mit einem Schnitt von ungefähr 5:45 min. Ich folge einem Läuferpaar und hole mehrer Läufer ein, von denen ich beim Start dachte, dass sie mit größeren Ambitionen gestartet sind. Der Lauf, das Gelände und die Hitze zwingen sie jetzt zum Gehen.

Auch bei mir beginnt der Kampf. Wie immer kommt der Punkt, an dem es bergab geht, fast unbemerkt und jäh. Beinahe habe ich die Marathondistanz geschafft, als die Chose losgeht. Ich suche in der Ferne ein Schild, das die Marathonmarke kennzeichnet, aber es kommt nichts. Zum Halbmarathon hatte es noch ein Schild samt lustigem Spruch gegeben. Vielleicht ist es gut so, denn ich hatte mich auf dem letzten Kilometer nur noch auf dieses Ziel konzentriert und wäre wohl stehengeblieben, wenn ein Schild die magische Distanz markiert hätte.

VP adé

Ich laufe weiter. Nicht so schnell wie bisher, aber ich laufe. Und ich überhole andere Läufer. Das verschafft mir neue Motivation, die zweite Luft. Die reicht ungefähr drei Kilometer, bis der Weg wieder schlechter wird. Morast, schmale Trampelpfade und Hindernisse, die man überwinden muss. Das ist nicht das Profil, das mich am Laufen halten würde! Trotzdem bleibe ich in Bewegung und gehe nur kurz, um ein besonders morastiges Hindernis zu überwinden.

Erst am Schloss Wiligrad bleibe ich stehen. Unfreiwillig und nicht in erster Linie wegen Erschöpfung. Meine Uhr zeigt mir an, dass ich weiter rechts laufen müsste, ich nicht auf dem richtigen Kurs bin. Rechts von mir ging es vor einigen Metern aber nur steile Treppen herauf. Kann das sein? Ich warte auf die nachfolgenden zwei Läufer. Wir beratschlagen uns und weil keiner einen Hinweis gesehen hat, laufen wir weiter am Ufer entlang. Auf meiner Uhr ist erkennbar, dass wir gleich wieder auf den korrekten Kurs gelangen werden. Kurz darauf ist es dann so weit: Ich verfalle ins Gehen, der Erschöpfung wegen und Dank des Dickichts, durch das ich mich nun schlage. Das ist wirklich höllisch. Die Radbegleiterin eines anderen Läufers trägt ihr Fahrrad mehr, als das sie es schiebt. An Fahren ist nicht im Entferntesten zu denken. Genauso wenig wie ich hier ans Laufen denken kann.

Irgendwie schlage ich mich in einer Mischung aus Gehen und Laufen bis zum Zeltplatz in Seehof durch. 51 km habe ich hinter mir. Weiter bin ich noch nie gelaufen. Für mich ist es so gesehen ein historischer Moment, doch verschwende ich daran kaum einen Gedanken. Mit einem anderen Läufer tausche ich mich kurz aus. Auch er erwartet sehnsüchtig den nächsten Verpflegungspunkt. Beide ahnen wir nicht, dass wir den letzten verpasst haben, als wir in Wiligrad kurz über den Weg diskutierten und uns entschieden, am Ufer zu bleiben. Immerhin wartet am Ende des Zeltplatzes ein inoffizieller Helfer mit Wasser zum Auffüllen der Flaschen. In einem Eimer hat er Wasser aus dem Schweriner See, das er mir zur Abkühlung anbietet. Ich bin unendlich dankbar.

Wer hat meine Cola getrunken?

Verpasster VP hin oder her. Beim letzten Verpflegungspunkt habe ich ein Date mit meiner Frau und dem Freund ihrer Cousine. Er will mich auf den letzten knapp 10 Kilometern begleiten. Als sie mir vor Minuten schrieb, dass sie bereits in Frankenhorst warten, schrieb ich zurück, dass ich auch gleich da sei. Weit gefehlt. Weil wir im Vorfeld die ganze Zeit von 10 km gesprochen hatten, die es dann noch wären, erwarte ich den VP jeden Moment, aber er kommt und kommt nicht, was mich wirklich zermürbt. Ich würde mich nur allzu gerne verpflegen und könnte die moralische Unterstützung sehr gut gebrauchen.

Beim VP in Frankenfeld nach 53,5 km hat die BIB schon ordentlich gelitten
Beim VP in Frankenhorst nach 53,5 km hat die BIB schon ordentlich gelitten
Auf geht's, die letzen 7 km des 5. SST
Auf geht’s, die letzen 7 km des 5. SST

Nachdem bei meiner Frau schon Zweifel aufgekeimt sind, ob ich falsch abgebogen bin, kommt der Stand doch noch in Sicht, bei Kilometer 53,5. Ich pausiere und unterhalte mich kurz, trinke gierig das alkoholfreie Bier, das meine Frau mitgebracht hat. Gleichzeitig fluche ich, weil es keine Cola mehr gibt. Jetzt habe ich mich die letzten 15 Kilometer auf eine schöne Cola gefreut und es gibt nichts mehr? So viele können doch gar nicht vor mir sein, sage ich ungläubig.

Einer der Helfer sagte mir, ich sei weit vorne im Feld. Meine Frau klärt auf: Es waren die 33-km-Läufer, die haben alles weggetrunken! Robert, meine Begleitung für die letzten sieben Kilometer, bringt es später auf den Punkt: Wer 33 km läuft, braucht keine Verpflegung, außer ein bisschen Wasser. Egal, es wird auch ohne Cola gehen. Sieben Kilometer nur noch! Wobei ich Robert und meiner Frau vorsorglich ankündige, dass es lange sieben Kilometer werden.

Der lange Weg ins Ziel beginnt

Ich nehme ein Stück von einem Müsliriegel und einige Salzbrezeln. schaffe aber mit Mühe und Not nur eine halbe. Es fühlt sich an, als würde sie mir die letzte Feuchtigkeit aus dem Mund ziehen, sie zu schlucken ist mir unmöglich. Ich entsorge den Rest im Gebüsch. Außerdem kämpfe ich mit Übelkeit. Das geht schon einige Kilometer so und ich meine zu Robert, das ich nicht dafür garantieren kann, nicht ins Gebüsch zu kotzen. Ja, es geht jetzt definitiv ans Eingemachte.

Als kleine Gemeinheit geht es direkt nach dem VP eine kleine Weile bergauf. Bergab verpassen wir gleich darauf die richtige Abzweigung. Vor uns sind bereits zwei andere Läufer in die gleiche Falle getappt, aber Läufer hinter uns machen uns auf den Abzweig aufmerksam. Einer der Fehlgeleiteten flucht, dass solche Schikanen nach 55 km nichts mehr für ihn sind. Da muss ich ihm recht geben. Die an die Holzstäbe in der Zuckerwatte erinnernden Wegmarken mit ein wenig roter Farbe sind nicht das, was man auffällig nennen würde.

Es geht quer über ein Stoppelfeld, dann hinein in einen Wald, auf dessen schmalen Pfad ich Robert um eine Gehpause bitte. Wir sind etwas mehr als einen Kilometer gelaufen, seit wir den VP verlassen haben und das verlangt mir alles ab.

Dankbar für jede Ablenkung

Auf den letzten Kilometern werde ich nur noch wenige hundert Meter am Stück laufen, ehe ich wieder gehen muss. Der Kopf ist mindestens so müde wie die Beine. Robert ist eine gute Ablenkung und Unterstützung. Weil er sich auskennt, erzählt er mir, wo es langgeht und wo der Weg später verläuft, er redet mir gut zu und bringt auf den Punkt, was ich noch gar nicht so richtig begreife. Ich werde es schaffen und dazu auch noch mein selbst gesetztes Zeitziel erreichen. Locker sogar. Trotzdem habe ich immer mal wieder das Bedürfnis, mich für meinen Zustand zu entschuldigen. Ich würde nur zu gerne längere Strecken laufen.

Nach sechs Stunden, die ich jetzt unterwegs bin, habe ich 56 km bewältigt und verlaufe mich gleich noch einmal. Wir sind auf einer Wiese, links von uns ist der Ziegelsee und wir meinen den richtigen Pfad anhand eines Trampelpfades über die Wiese zu erkennen. Die Läufer vor uns sind geteilter Meinung. Zwei biegen ab zum See, der Rest läuft weiter über die Wiese. Erstere haben recht, während wir uns quasi sinnlos den Hang hinaufmühen. Sei es drum, auch dieser Weg führt zum Ziel. Wenige Meter weiter fragt eine Fahrradfahrerin, was das für ein Lauf sei, an dem wir teilnehmen.

Robert gibt Auskunft und legt großen Wert darauf, dass er nicht den ganzen Weg gelaufen sei, sondern ich. Ehre, wem Ehre gebührt. Ich finde, die Ehrlichkeit ehrt auch ihn. Die Radfahrerin verdrehte die Augen. Sie hält uns anscheinend für verrückt, nicht zu unrecht. Derweil hat der Fahrradweg für meinen Geschmack zu viele Anstiege, die mich immer wieder zum Gehen zwingen.

Was vor sechs Stunden leicht war, fällt jetzt unendlich schwer

Im linken Bein kündigt sich immer mal wieder ein Krampf an. Das geht schon so seit dem letzten VP, aber noch macht der Muskel mit. Schritt und Schritt wird die Distanz weniger und je näher ich dem Ziel komme, desto mehr glaube ich selbst daran anzukommen.

Dann können wir linker Hand den alten Speicher bereits sehen und hören auch die Moderation im Ziel. Das Ziel ist in Sicht und doch fühlt es sich noch unendlich weit weg an. Wie sich die Relationen verschieben. Es ist nicht viel mehr als ein einziger Kilometer, ein Witz normalerweise, fühlt sich nun aber an wie die Ewigkeit. So gerne ich den Rest einfach durchlaufen würde, ich traue es mir nicht zu. Und was würde es bringen? Ob ich nun eine Minute früher ankomme oder nicht, das spielt überhaupt keine Rolle mehr! Ich will lieber mit einem Lächeln auf die Zielgerade gehen, als doch noch was zu riskieren. Das gibt anderen Läufern die Chance, mich doch noch zu überholen. Drei oder vier Läufer überholen mich, es sei ihnen gegönnt! Auch sie sind nicht mehr schnell unterwegs, aber sie laufen noch.

Auf den letzten Metern des 5. Schweriner Seentrails ©ttfoto.de

Erst als wir auf der Knaudtstr. sind, am Südende des Ziegelinnensees, beginne ich wieder mit dem Laufen. Endspurt! Doch plötzlich explodiert ein stechender Schmerz in meiner linken Wade. Sie krampft, lockert sich aber glücklicherweise wieder, ohne dass ich dehnen muss. Es wird Zeit, dass ich diesem Lauf ein Ende bereite. Vielleicht sind es noch 800 m, möglicherweise auch weniger. Ich kenne den Weg hier schon vom Warmlaufen. Was vorhin noch so leicht ging, fällt mir nach sechseinhalb Stunden unendlich schwer.

Gefühlschaos

Dann kommt der alte Verladekran in Sicht und Robert dirigiert mich auf die Zielgerade, bevor er sich verabschiedet. Wir klatschen ab und ich gehe alleine auf die letzten Meter. In freudiger Erwartung und voller Erleichterung grinse ich, lächle meiner Frau zu, die rechts steht, winkt und fotografiert, blicke aufs Ziel, dann wieder zu Boden. Ich will diesen Moment für mich haben und niemanden im Ziel ansehen. Stolz überkommt mich und kurz bevor ich die Ziellinie überquere, breite ich meine Arme aus: „Da breitete er die Arme aus, macht kurz den Flieger.“, kommentiert der Moderator, dann ist es geschafft. Ich greife meine Medaille, grinse noch immer und stütze mich mit den Armen auf den Knien ab. Jemand fummelt meinen Transponder vom Knöchel. 61 km! Ich will mich hinlegen, will in den Schatten.

Auf einer Bank entdecke ich Christian in seinem auffälligen Shirt. Wir haben uns mehrmals gegenseitig überholt und beglückwünschen uns jetzt. Ich lasse mich neben ihn auf die Bank fallen, dann kommt meine Frau, was dazu führt, dass ich in ein Gefühlschaos stürze. Als sie mich umarmt, bin ich den Tränen nahe, will lachen, bin völlig erschöpft. Tatsächlich bleibe ich einfach sitzen und lasse mir eine Cola holen. Die Muskulatur in meinen Beinen führt ein Eigenleben und zuckt unentwegt. Essen kann ich noch nicht, dazu ist mein Mund zu trocken, trotzdem lasse ich mir ein Stück Pizza und einen Kuchen bringen. Irgendwann wird es wieder gehen und bis dahin halte ich mich am Siegerbier fest. Ab heute bin ich Ultraläufer.

Der Lauf im Überblick

Distanz61 km
Zeit6:36:33 Std. / 6:30 min/km
Platzierung37. von 107 Teilnehmern
AK-Platzierung8. von 15 (M40)
StreckeVom Schloss aus geht es gegen den Uhrzeigersinn einmal um den Schweriner See. Die Strecke ist abwechslungsreich und mit vielen Höhepunkten ausgestattet. Läuft man zuerst noch auf Asphalt beginnt hinter Raben Steinfeld ein längerer Trail-Abschnitt bis Rampe. Dort schließt sich dann wieder eine längere Strecke auf Radwegen an, ehe es bei Schloss Wiligrad erneut über Trails geht.
Die Strecke ist gut (und nachhaltig) markiert, eine Absperrung erfolgt nicht, d.h., man teilt sich den Kurs mit Radfahrern und Spaziergängern.
BesonderheitenDer Fotoservice ist herausragend. An diversen Stellen werden professionelle Bilder geschossen, die anschließend ins Internet gestellt werden. Auch die Zielverpflegung ist überragend.

Der Lauf im Vergleich

VeranstaltungDatumZielzeitPaceDifferenz zur Bestzeit
7. Schweriner Seentrail25.03.20235:37:50 Std.5:34 min/km
5. Schweriner Seentrail21.08.20216:36:33 Std. 6:30 min/km+ 50:43 min

6 Comments on “Ich bin jetzt Ultraläufer – Der 5. Schweriner Seentrail

  1. Hey Karsten, lese ich erst jetzt Deinen langen Artikel, bin zufälllig im Netz darauf gestoßen. Wir wissen, dass die Markierung nicht optimal war dieses Jahr. Ist jedes Jahr eine kleine Herausforderung, da die Strecke ja lang ist und wir zB ohne Kunststoffe arbeiten wollen (und alle ehrenamtlich kämpfen für das Event). Aber das Problem ist erkannt und wird im nächsten Jahr besser gelöst, versprochen!
    Was für ein cooler Bericht, der vielleicht auch andere anregt, bei uns am 26. März 2022 wieder an den Start zu gehen, lang oder kurz oder als Staffel! Glückwunsch zum guten Ergebnis und dem Start ins Ultra-Leben.
    Viele Grüße
    Thomas, Seentrail-Org-Team
    (dieses Jahr auch: 33k-Läufer, mit Cola am Stand in Frankenhorst, sorry auch dafür 🙂 )

    1. Hi Thomas,
      vielen Dank für das Lob und die Rückmeldung. Es war Jammern auf hohem Niveau und ich bin total zufrieden gewesen mit der Veranstaltung.
      Viele Grüße
      Karsten

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